Keine Ausnahmeindikation für Implantate aufgrund genetisch bedingter Erkrankung

LSG NRW: Keine Ausnahmeindikation für Implantate aufgrund genetisch bedingter Erkrankung

Urteil vom 06.02.2023

Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen lehnt mit Urteil vom 06.02.2023 (Az.: L 5 KR 739/22) für Versicherte der GKV den Anspruch auf eine implantologische Versorgung ab, die an einer sogenannten Amelogenesis imperfecta, Hypomineralisations-/Hypomaturationstyp leiden. Hierbei handelt es sich um eine seltene genetisch bedingte Erkrankung, bei der die Bildung des Zahnschmelzes beeinträchtigt ist. Dem folgend besteht ein erhöhtes Risiko der Kariesbildung der Milchzähne und der bleibenden Zähne, meist werden die Zähne restaurationsbedürftig, z.B. durch frühzeitige Überkronungen.

Der von der Krankenkasse eingeschaltete Gutachter stellte eine nicht erhaltungswürdige Restbezahnung im Oberkiefer fest. Die Erkrankung der Patientin habe zum Verlust der Zähne geführt. Eine Ausnahmeindikation löse dieses Krankheitsbild jedoch nicht aus. Geplant seien acht Implantate mit rein implantatgetragenen Brücken. Die konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei jedoch möglich.

Die Patientin erhob daraufhin Klage bei dem Sozialgericht Münster und trug ergänzend vor, die Behandlungsrichtlinie möge zwar durchaus außenwirksames Recht setzen, es bestehe aber dennoch „ein Spielraum in der verbindlichen Leistungserbringerpflicht im Rahmen einer Ermessensausübung“. Dieses Ermessen sei nicht fehlerfrei ausgeübt worden. Ihre Erkrankung sei unter die Ausnahmeindikation „generalisierte Nichtanlage von Zähnen“ zu subsumieren. Die Brücke, mit welcher sie im Oberkiefer versorgt sei, halte nicht an Zähnen (die nicht vorhanden seien), sondern an Wurzeln. Diese seien gelblich, weich, quasi wie Gummi. Das Zahnfleisch „falle“ herunter, der Knochen befinde sich im Auflöseprozess. Sie leide daher auch unter einem Kieferdefekt. Die konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei absolut unzweckmäßig und nur „Flickwerk“. Ihr Oberkiefer sei immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Die Nahrungsaufnahme sei zunehmend beschwerlich und die gesamtgesundheitliche Situation leide. Ihr Zahnarzt habe zudem eine angeborene Fehlbildung des Kiefers bescheinigt.

Die Klägerin hat überdies ein Attest einer Fachärztin für Allgemeinmedizin vorgelegt. Danach leide sie unter erheblichen Zahnproblemen mit zahlreichen Eingriffen und reaktiver psychischer Belastung. Durch die angestrebte Implantatversorgung könne die psychische Belastung der Klägerin reduziert und durch die Stabilisierung der Kiefermotorik eine chronisch-mandibuläre Dysfunktion behandelt werden. Dadurch würden Folgekosten durch anhaltendes Schmerzsyndrom, psychische Belastungsreaktionen und Krankheitsfehlzeiten reduziert.

Schließlich legte die klagende Patientin noch ein Attest einer psychologischen Psychotherapeutin vor. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Erkrankung Ängste beim Essen und Selbstwertprobleme entwickelt. Sie habe nicht in Gesellschaft essen oder lachen können. Diese Erlebnisse sowie die Auseinandersetzung mit der Beklagten würden psychotherapeutisch aufgearbeitet. Eine Unterstützung der Klägerin in ihrer Leidensgeschichte sei wünschenswert.

Das Sozialgericht Münster gab der Patientin daraufhin Recht und verurteilte die Krankenkasse zur Leistung bezüglich der implantologischen Versorgung im Oberkiefer gemäß § 13 Abs. 3 S.1 SGB V. In zweiter Instanz wurde dieses Urteil sachverständig beraten abgeändert und der Anspruch durch das Landessozialgericht verneint.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V habe die Krankenkasse, sofern sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden seien, diese Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Dieser Kostenerstattungsanspruch reiche nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch (vgl. zuletzt nur BSG, Urteil vom 10.03.2022 – B 1 KR 2/21 R Rn. 8). Ein solcher Sachleistungsanspruch bestand vorliegend jedoch nicht. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit Zahnimplantaten zu versorgen.

Wörtlich stellt das Gericht fest:

„Sind die Voraussetzungen dieser Ausnahmeindikationen erfüllt, besteht – auch im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung – Anspruch auf Implantate zur Abstützung von Zahnersatz als Sachleistung nur dann, wenn eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate nicht möglich ist (Abschnitt B VII 2 Satz 2 Behandlungsrichtlinie). Sämtliche Voraussetzungen sind vorliegend jedoch nicht erfüllt.

Anders als es das Sozialgericht meint, fehlt es schon an einer medizinischen Gesamtbehandlung i. S. d. § 28 Abs. 2 S. 9 SGB V. Für eine solche reicht es – wie bereits dargelegt – nicht aus, dass mit der Wiederherstellung der Kaufunktion auch andere medizinische Zwecke erreicht werden (st. Rspr. des BSG, dazu grundlegend Urteil vom 07.05.2013 – B 1 KR 19/12 R, zuletzt bestätigt durch Beschluss vom 07.12.2022 – B 1 KR 48/22 BH). Nachvollziehbar war die Klägerin vorliegend zwar aufgrund des Zustandes ihrer Zähne bei der Nahrungsaufnahme eingeschränkt. Es erscheint auch nachvollziehbar, dass die Klägerin psychisch unter ihrer Erkrankung litt, weil sie zum einen das Abbrechen weiterer Zähne befürchtete und zum anderen beim Lachen und Sprechen optische und phonetische Beeinträchtigungen vorlagen. Es steht jedoch keinesfalls fest – worauf der gerichtliche Sachverständige zutreffend hinweist –, dass ein medizinisches Gesamtbehandlungskonzept vorlag, weil schon Behandlungsfrequenz und -zeitraum der hausärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung nicht nachgewiesen wurden. Überdies stand auch unter Berücksichtigung dieser Aspekte die Wiederherstellung der Kaufunktion eindeutig im Vordergrund. Die erforderliche medizinische Gesamtbehandlung muss sich aber aus verschiedenen, nämlich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Das Tatbestandsmerkmal der medizinischen Gesamtbehandlung schließt daher von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit hinausreicht (BSG, Beschluss vom 07.12.2022 – B 1 KR 48/22 BH).“