21 Tote nach Narkosen in Praxen
In den vergangenen zehn Jahren sind laut Report Mainz mindestens 21 Patientinnen und Patienten nach Vollnarkosen in Arztpraxen gestorben, weil grundlegende ärztliche Standards missachtet wurden – darunter mehrere Kinder. Fachgesellschaften und Juristen fordern nun strengere Kontrollen und ein Ende riskanter Narkosen außerhalb von Kliniken.
Ein besonders tragischer Fall ist der der sechsjährigen Sophia. Sie sollte wegen Karies unter Vollnarkose behandelt werden – und starb wenige Tage später. Wie Report Mainz berichtet, war der Narkosearzt zum Zeitpunkt der sogenannten Narkoseausleitung offenbar nicht im Behandlungsraum anwesend. Ein Gutachten, das der Redaktion vorliegt, kommt zu dem Schluss, der Arzt habe in dieser kritischen Phase Beratungsgespräche mit anderen Patienten geführt. Als er zurückkehrte, habe das Herz des Mädchens bereits mehrere Minuten stillgestanden.
„Gesunde Patienten müssen eine Vollnarkose überleben“
Auch im Fall einer 63-jährigen Patientin, die 2023 nach einer Zahnbehandlung unter Narkose starb, sah das Landgericht Osnabrück schwerwiegende Pflichtverletzungen. Der Narkosearzt wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, weil er ein veraltetes Narkosegerät ohne Prüfung eingesetzt und die Patientin nicht standardgerecht überwacht hatte.
Nach Einschätzung des Anästhesisten und früheren Klinikdirektors Prof. Uwe Schulte-Sasse sind solche Fälle vermeidbar. „Gesunde Patienten, kleine Eingriffe – diese Patienten müssen eine Vollnarkose überleben“, sagt er. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass Ärztinnen und Ärzte sich an die etablierten Standards hielten.
Wirtschaftlicher Druck als Ursache
Warum solche Standards dennoch missachtet werden, erklärt der Itzehoer Richter Tim Neelmeier, der mehrere Fälle juristisch begleitet hat, mit wirtschaftlichen Anreizen: „Standardunterschreitungen sind hier wirtschaftlich motiviert. Ärzte haben ein Interesse, möglichst viele Patienten in kurzer Zeit zu behandeln – oft mit zu wenig Personal.“ Im Vergütungssystem werde die Durchführung einer Narkose bezahlt, nicht aber deren Qualität.
Kontrollen gebe es praktisch keine, kritisiert Neelmeier weiter: „Ich würde so weit gehen zu sagen, in Deutschland wird jeder Imbiss engmaschiger kontrolliert als eine Arztpraxis.“
Fachgesellschaften fordern gesetzliche Standards
Auch die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) fordern Konsequenzen. In einer gemeinsamen Erklärung rufen sie das Bundesgesundheitsministerium dazu auf, die Mindeststandards für anästhesiologische Arbeitsplätze verbindlich im Gesetz zu verankern.
Neelmeier fordert zusätzlich, dass Kassenärztliche Vereinigungen künftig die Einhaltung dieser Standards kontrollieren – andernfalls müssten Vollnarkosen in Arztpraxen ganz verboten werden.
Ministerium sieht keinen Handlungsbedarf
Unterstützung erhält er von Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen, der die Ärzteschaft in die Pflicht nimmt: „Wenn die große Zahl dieser schrecklichen Todesfälle nicht verhindert werden kann, muss man sich fragen, ob Narkosen unter solchen Umständen überhaupt noch zulässig sind – insbesondere bei Kindern.“
Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf bestehende Regelungen und sieht derzeit keinen weiteren Handlungsbedarf. In anderen Ländern gelten deutlich strengere Vorgaben: In Großbritannien etwa sind Vollnarkosen in Zahnarztpraxen seit fast 25 Jahren verboten.
Autor: mm © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG Quelle: https://www.aend.de/article/237355
