Rechtstipp 3/2025: OLG Naumburg: Ohne Einwilligung vorgenommene Erweiterung der zahnärztlichen Behandlung (Exz1, Exz2) kann zu Schmerzensgeld führen
Urteil vom 24.09.2024
Führt die ohne Einwilligung des Patienten vorgenommene Erweiterung der zahnärztlichen Behandlung zur Verletzung des Nervus lingualis, kann unter dem weiteren Gesichtspunkt der Genugtuung ein Schmerzensgeld von 10.000 Euro in Betracht kommen. Zu diesem Ergebnis kam das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg mit Urteil vom 24.09.2024 (Az.: 1 U 86/23) und führte dazu aus, dass es sich beim abgesprochenen oberflächlichen Abtragen einer Zahnfleischkapuze (Exzision 1) um eine einfache, wenig invasive Routine- oder Banalmaßnahme handle. Dagegen sei die vom Behandler unzweifelhaft durchgeführte tiefe Exzision der Schleimhautwucherung (Exzision 2) ein zahnärztlich-chirurgischer Eingriff im engeren Sinne.
Erweitere der Behandler den Eingriff in diesem Sinne, konnte und musste er innehalten und für die weitergehende Einwilligung unter Einschluss der erforderlichen Selbstbestimmungsaufklärung der Klägerin Sorge tragen. Dies habe er nicht getan, sondern die Exzision 1 kommentarlos ohne Einwilligung der Klägerin auf eine Exzision 2 erweitert.
Erschwerend komme hinzu, dass die geplante tiefe Exzision regelmäßig nach einer Röntgenaufnahme verlange, die dem Zahnarzt nicht vorlag und von ihm auch intraoperativ nicht angefertigt worden sei. Vor der tiefen Gewebeabtragung bedürfe es der Beurteilung der Lage und der Erhaltungswürdigkeit des Weisheitszahns sowie der Platzverhältnisse. Bei einem röntgenologisch erkennbaren Engstand sei die tiefe (komplikationsbehaftete und damit aufklärungsbedürftige) Exzision 2 eine sinnlose Maßnahme, weil dann – wie im Falle der Klägerin – die Extraktion des Zahnes die gebotene Behandlungsmethode sei. Der Zahnarzt habe damit „blind“ eine überflüssige und nicht erfolgversprechende tiefe Exzision durchgeführt. Dadurch sei es, so der Sachverständige, zweifelsfrei auf Grund der tiefen Exzision zu einer dauerhaften Verletzung des Nervus lingualis gekommen.
Bemessung des Schmerzensgeldes
Die Klägerin habe mit der Ablehnung des Vergleichsvorschlages richtig auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes verwiesen, die hier ausnahmsweise zum Tragen komme. Zumindest unter Berücksichtigung dessen, dürfe die Klägerin nicht unter 10.000,00 EUR entschädigt werden.
„Auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes in Arzthaftungssachen kann der Gesichtspunkt der Genugtuung im Falle objektiv wie subjektiv groben Verschuldens Bedeutung erlangen. Die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes bringt eine durch den Schadensfall hervorgerufene persönliche Beziehung zwischen Schädiger und Geschädigtem zum Ausdruck, die es aus der Natur der Sache heraus gebietet, alle Umstände des Falles in den Blick zu nehmen und, sofern sie dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, bei der Bestimmung der Leistung zu berücksichtigen, wozu der Grad des Verschuldens des Schädigers gehört (BGH NJW 2022, 1443, 1444). Auch bei einer unzureichenden Selbstbestimmungsaufklärung kann die subjektive personale Seite der Verantwortlichkeit von Bedeutung sein und den Schadensfall prägen.
Der Beklagte wusste um die fehlende Einwilligung der Klägerin in eine tiefe Exzision. Als ausgebildetem Zahnmediziner war ihm bekannt, dass es sich bei der tiefen Exzision um einen chirurgischen Eingriff handelte, der mit Risiken, wie der Verletzung des Nervus lingualis, verbunden war. Weiter hatte der Beklagte Kenntnis von der Notwendigkeit der Einwilligung der Klägerin in einen solchen Eingriff, von der Bedeutung der Risiken und Behandlungsalternativen für die Willensbildung der Klägerin und damit von der Notwendigkeit, die Klägerin vor ihrer Einwilligung ordnungsgemäß aufzuklären. Dies hat der Beklagte willentlich unterlassen.
Das Vorgehen des Beklagten beeinträchtigte damit vorsätzlich die körperliche Integrität der Klägerin und nahm die medizinische Sinnlosigkeit dieser Maßnahmezumindest billigend in Kauf.Der Schaden am Nervus lingualis wurde in dieser Situation zweifelsohne grob fahrlässig verursacht, wenn man nicht sogar auch insoweit bedingten Vorsatz annehmen muss.“
Juradent-ID: 4778