Gewalt in Arztpraxen: Viel Zuspruch für Reinhardts Meldesystem-Vorschlag – aber auch Skepsis
Angriffe durch Patienten sollten Niedergelassene und ihre Praxisteams künftig schnell und unkompliziert über extra dafür eingerichtete Online-Plattformen melden können, fordert die Bundesärztekammer. Eine große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte findet diese Idee gut, zeigt eine aktuelle Umfrage des Ärztenachrichtendienstes. Viele sind aber skeptisch, ob das in der Realität so nutzenbringend umgesetzt werden kann. In Sachen Schutzvorkehrungen in der eigenen Praxis kommt die Umfrage zu einem überraschenden Ergebnis.
Bund und Länder müssten im Internet zentrale Meldesysteme bereitstellen, über die niedergelassene Ärztinnen und Ärzte „unkompliziert mit wenigen Klicks“ Vorfälle mit pöbelnden und gewalttätigen Patienten und Patientinnen anzeigen könnten, schlug Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt kürzlich vor. Polizei und Justiz sollten diesen Fällen dann grundsätzlich unmittelbar nachgehen. Reinhardt reagierte damit auf einen Gewalt-Vorfall in einer Arztpraxis im nordrhein-westfälischen Spenge, der sich Ende Januar ereignet hatte. Ein Patient hatte dort einen Hausarzt angegriffen und bewusstlos geschlagen. Der Arzt wurde dabei so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste.
BÄK-Präsident Reinhard erklärte wenige Tage nach dem Angriff, dieser sei keineswegs ein Einzelfall. „Gereiztheit ist weit verbreitet und die Schwelle, an der sie übergeht in Aggression, ist definitiv gesunken.“ In den Praxen komme es immer häufiger zu gewaltsamen Übergriffen.
Könnten die von der BÄK vorgeschlagenen Online-Melderegister womöglich dabei helfen, die Angriffe auf Niedergelassene und ihre Praxisteams besser zu verfolgen und somit auf lange Sicht einzudämmen? Wir haben die änd-Leserinnen und -Leser gefragt, was sie von Reinhardts Vorstoß halten. 34 Prozent sagten, die Idee sei gut und sie könne dazu führen, dass derartige Vorfälle dann schneller verfolgt und bestraft würden. Weitere 47 Prozent gaben ebenfalls an, dass der Vorschlag zwar nicht schlecht, aber dennoch zu befürchten sei, dass sich Polizei und Justiz dann trotzdem nicht rascher um solche Vorfälle kümmern würden. Immerhin knapp ein Fünftel hält den Vorstoß für „Unsinn“ – er trage nichts zur Problemlösung bei.
Bei der aktuellen Umfrage handelt es sich bereits um die zweite, die der änd zum Thema Gewalt in der Arztpraxis durchgeführt hat. 2017 hatte die Redaktion die Leserinnen und Leser schon einmal nach ihren Erfahrungen mit entsprechenden Vorfällen gefragt. Damals hatten 43 Prozent der Ärztinnen und Ärzte geantwortet, dass sich ihre Medizinischen Fachangestellten (MFA) mindestens einmal pro Woche mit Patienten beziehungsweise Patientinnen auseinandersetzen müssten, die verbal aggressiv aufträten. Diese Zahl ist bei der aktuellen Umfrage mit 41 Prozent in etwa gleichgeblieben.
Auch bei der Frage nach Erfahrungen mit körperlicher Gewalt zeigt sich kaum eine Entwicklung nach oben oder nach unten: Während bei der ersten Umfrage 25 Prozent der Befragten mitgeteilt hatten, in der eigenen Praxis bereits mit körperlich gewalttätigen Patienten und Patientinnen konfrontiert gewesen zu sein, waren es bei der jetzigen Umfrage 23 Prozent. Alarmierend: Von denjenigen, die laut der aktuellen Umfrage bereits Gewalterfahrungen gemacht haben, berichteten insgesamt 26 Prozent davon, dass sie dabei schon einmal oder mehrfach leicht (23 Prozent) oder sogar schwer (3 Prozent) verletzt worden seien.
Ein Viertel hat schon einmal die Polizei gerufen – damals wie heute
Nach eigenen Verletzungen hatte die änd-Redaktion die Niedergelassenen bei der Umfrage im Jahr 2017 nicht gefragt, wohl aber nach Verletzungen des Praxispersonals. Damals hatten 16 Prozent der Ärztinnen und Ärzte mit Gewalterfahrungen in der eigenen Praxis angegeben, dass schon einmal eine oder mehrere ihrer Mitarbeiterinnen durch gewalttätige Patienten verletzt worden seien. Bei der gleichlautenden Frage in der aktuellen Umfrage ist diese Zahl mit 17 Prozent fast identisch.
Ebenfalls kaum etwas geändert hat sich bei den Antworten auf die Frage, ob man aufgrund aggressiver Patienten beziehungsweise Patientinnen schon einmal die Polizei rufen musste: Aktuell sagten 25 Prozent, das sei mindestens schon einmal vorgekommen. Damals (2017) hatten dies in etwa gleich viele Befragte (24 Prozent) angegeben.
Ein kleiner Unterschied lässt sich hingegen bei den Antworten auf die Frage erkennen, mit welchen Konsequenzen Patienten und Patientinnen zu rechnen haben, die sich in der Praxis danebenbenehmen. Mittlerweile scheinen die Niedergelassenen in diesem Fall weniger nachsichtig zu sein als noch vor acht Jahren, denn bei der aktuellen Befragung gaben 40 Prozent an, dass sie in solchen Fällen sofort ein Praxisverbot aussprächen. Damals hatten mit 31 Prozent etwas weniger Ärztinnen und Ärzte diese Option ausgewählt. Das „klärende Gespräch“ war bei der ersten Umfrage mit 64 Prozent die mit Abstand am häufigsten genannte Antwort gewesen. Aktuell sagten hingegen nur 49 Prozent der Befragten, sie würden mit pöbelnden Patienten und Patientinnen zunächst ins Gespräch gehen, da jeder eine zweite Chance verdient habe. 2 Prozent (aktuell) beziehungsweise 6 Prozent (2017) ziehen hingegen nach eigenen Angaben gar keine Konsequenzen.
Mehr Befragte als damals bezeichnen Anti-Gewalt-Trainings für Praxispersonal als „Unsinn“
Dass das Thema „Gewalt in der Arztpraxis“ mittlerweile etwas mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfährt, davon sind jetzt offenbar mehr Ärztinnen und Ärzte überzeugt als noch vor einigen Jahren. Zwar gaben bei der aktuellen Befragung immer noch 56 Prozent an, sie hätten den Eindruck, dass kaum jemand wisse, was in den Praxen in dieser Hinsicht so abgehe. Im Jahr 2017 war diese Zahl mit 87 Prozent jedoch deutlich höher. 38 Prozent der Befragten sind heute der Auffassung, dass das Problem zwar immer mehr, aber immer noch zu wenig wahrgenommen wird.
Eine interessante Entwicklung lässt sich bei der Frage nach Schulungen und Kursen für Praxispersonal zum Umgang mit gewalttätigen Patienten und Patientinnen beobachten: Bei der ersten Umfrage hatten 18 Prozent der Ärztinnen und Ärzte solche Angebote als „Unsinn“ bezeichnet. Diese Auffassung ist mittlerweile wohl noch stärker verbreitet, denn bei der aktuellen Befragung gaben nun 27 Prozent an, dass solche Schulungen „Unsinn“ und somit nutzlos seien. Immerhin 58 Prozent sagten aber, so etwas sei eine gute Idee und man wolle das demnächst in der eigenen Praxis umsetzen. Und 15 Prozent berichteten, dass die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits entsprechende Kurse besucht hätten. Im Jahr 2017 hatten 64 Prozent geantwortet, derartige Angebote seien eine gute Idee und 18 Prozent hatten diese auch tatsächlich schon umgesetzt.
Schutzvorkehrungen bei den meisten Fehlanzeige
Der änd wollte dieses Mal auch von den Niedergelassenen wissen, ob und welche Schutzvorkehrungen sie in ihrer Praxis getroffen oder eingerichtet haben, um bei Angriffen schnell reagieren zu können. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Obwohl aggressive und pöbelnde Patienten und Patientinnen längst keine Seltenheit mehr sind und man auch bei gewalttätigen Übergriffen in Arztpraxen nicht mehr von Einzelfällen sprechen kann, hat eine Mehrheit der Befragten (65 Prozent) nach eigener Aussage keine Schutzmaßnahmen in der eigenen Praxis installiert. Nur 8 Prozent gaben an, eine Alarmanlage zu haben, die sich im Notfall schnell auslösen lasse und deren Lärm dann abschreckend wirke. 16 Prozent der Befragten berichteten, sie hätten in ihrer Praxis Waffen zur Selbstverteidigung wie Pfefferspray oder Taser griffbereit liegen. Und lediglich 4 Prozent der Ärztinnen und Ärzte haben nach eigenen Angaben in ihrer Praxis eine Überfall-Meldeanlage mit versteckten Alarmknöpfen eingerichtet, mit der sich ein Sicherheitsdienst oder die Polizei rufen lassen.
An der aktuellen Online-Umfrage zum Thema „Gewalt in der Praxis und Schutzvorkehrungen“ beteiligten sich vom 20. Februar bis zum 3. März insgesamt 667 niedergelassene Haus- und Fachärztinnen und -ärzte.