„Orale Gebrechlichkeit“: Wenn der Mund zum Altersproblem wird
Drei japanische Fachgesellschaften warnen vor einem unterschätzten Altersrisiko: der „oralen Frailty“ – einem frühen, reversiblen Funktionsverlust im Mundraum, der weit über reine Zahnprobleme hinausgeht.
Das Konzept beschreibe den Übergang zwischen einem gesunden Mund und einer manifesten Funktionsstörung mit zunehmendem Alter. Bereits kleinste Einbußen wie Zahnverlust, Kau- oder Schluckprobleme, Mundtrockenheit oder eine verwaschene Aussprache können eine fatale Kaskade auslösen, die über Mangelernährung und sozialen Rückzug bis hin zu körperlicher Gebrechlichkeit und erhöhter Sterblichkeit führe, schätzen die Autoren des Konsensuspapiers ein.
Der Mund über entscheidet über die Lebenserwartung
Japan stehe mit seiner rasant alternden Bevölkerung an der Spitze einer gesellschaftlichen Entwicklung, die viele Industrienationen erwartet. Die Autoren sehen daher die orale Gebrechlichkeit als Schlüsselvariable, um körperliche Autonomie und Lebensqualität im Alter zu sichern. Sie warnen zugleich, dass funktionelle Einbußen im Mund nicht isoliert entstünden, sondern Teil eines multifaktoriellen Gebrechlichkeitsprozesses seien, der körperliche, psychische und soziale Aspekte miteinander verbinde.
Besonders brisant sei dabei, dass rund 40 Prozent älterer Menschen in japanischen Gemeinden bereits die Kriterien der oralen Gebrechlichkeit erfüllten – oft ohne es zu wissen.
Die OF-5-Checkliste: Diagnose ohne Zahnarzt
Um eine frühzeitige Diagnose von Veränderungen zu ermöglichen, stellen die Fachgesellschaften ein neu entwickeltes Screening vor: die „Oral Frailty 5-Item Checklist“ (OF-5). Sie komme ohne zahnärztliche Untersuchung aus und frage im Wesentlichen fünf Kernsymptome ab (Originalgrafik):
- Anzahl verbleibender eigener Zähne,
- Schwierigkeiten beim Kauen,
- Schluckbeschwerden,
- Mundtrockenheit sowie
- Probleme mit klarer Aussprache
Bereits zwei positive Antworten reichten letztlich aus, um ein erhöhtes Risiko zu signalisieren. Der Test sei damit ein niedrigschwelliges Instrument, das insbesondere für den Einsatz in Hausarztpraxen, Pflegeeinrichtungen oder im öffentlichen Gesundheitswesen entwickelt wurde, schreiben die Autoren weiter.
Vom Mund zur Muskelschwäche
Die Folgen oraler Gebrechlichkeit reichten weit, wie es heißt: Studien belegten zuvor, dass Personen mit oraler Gebrechlichkeit häufiger körperlich gebrechlich und pflegebedürftig würden und auch häufiger sterben als Vergleichspersonen ohne diese Einschränkungen.
Der Mechanismus dahinter sei gut nachvollziehbar: Wer schlecht kauen könne, esse weniger abwechslungsreich, verliere an Muskelmasse und isoliere sich überdies zunehmend auch sozial. Genau hier setze das neue Konzept an.
Intervention statt Defizitdenken
„Der zentrale Punkt unseres Konsenspapiers ist, dass die orale Gebrechlichkeit eben kein Schicksal ist. Die funktionellen Einschränkungen gelten häufig noch im Frühstadium sogar als reversibel“, erklären die Autoren.
Gefordert werde deshalb eine engere Verzahnung von Zahnmedizin, Geriatrie, Ernährungsberatung und Pflege. Umfassende Konzepte sollen dabei helfen, Kau- und Schluckfähigkeit zu trainieren, Mundtrockenheit zu behandeln und sprachmotorische Fähigkeiten zu verbessern.
Fazit
Mit der neuen Definition mache Japan die orale Gesundheit zu einem politischen und gesellschaftlichen Thema. Der Mund wird nicht länger als isolierter Problembereich betrachtet, sondern als biologische Schnittstelle, die über Autonomie, Lebensqualität und Lebenserwartung im Alter (mit)entscheidet, wie es zum Abschluss heißt.
Originalpublikation: Tanaka T et al., Consensus statement on “Oral frailty” from the Japan Geriatrics Society, the Japanese Society of Gerodontology, and the Japanese Association on Sarcopenia and Frailty. Geriatr Gerontol Int 2024; 24(11): 1111–1119. doi: 10.1111/ggi.14980
