BGH: Therapiewahl ist Entscheidungssache des Arztes, aber nicht ohne den Patienten!

Urteil vom 21.01.2025

Stehen für eine Erkrankung mehrere Behandlungsmethoden zur Verfügung, ist die Wahl der Therapie grundsätzlich Sache des Arztes, dem die Rechtsprechung bei seiner Entscheidung grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt – aber sie hat Grenzen. Dazu hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 21.01.2025 (Az.: VI ZR 204/22) unmissverständlich klargestellt:

Der Arzt ist bei der Wahl der Therapie insbesondere nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden.

Zudem erfordert die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten die Einbindung in die Entscheidung, und zwar nach dem Grundsatz der partizipativen Entscheidungsfindung („Shared Decision Making“) umfassend, ehrlich und rechtzeitig – sonst droht die Unwirksamkeit der Einwilligung und damit ein voller Haftungsdurchgriff bei Komplikationen.

Der Fall:

Eine 12-jährige Patientin litt an einer instabilen Fehlstellung der oberen Halswirbelsäule – eine seltene, aber ernstzunehmende Erkrankung. Die behandelnden Ärzte führten wiederholt eine sog. Gallie-Technik durch – eine Operationsmethode, bei der die Wirbel miteinander verbunden werden. Leider kam es infolge der Eingriffe zu einer inkompletten Querschnittslähmung.

Die Eltern hatten dem Eingriff zwar zugestimmt – aber nicht gewusst, dass es auch risikoärmere Alternativen wie moderne Verschraubungstechniken gegeben hätte. Diese wurden nach Ansicht des gerichtlichen Gutachters bereits damals an pädiatrischen Zentren durchgeführt – sie wären also durchaus eine Option gewesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Der BGH hat dem klagenden Mädchen und ihren Eltern Recht gegeben und eine wichtige medizinrechtliche Weichenstellung vorgenommen:

1. Therapiefreiheit ist nicht gleich Alleinentscheidungsrecht

Ärzte haben einen weiten Beurteilungsspielraum, müssen aber bei der Wahl zwischen verschiedenen Methoden eine verantwortliche Abwägung treffen – insbesondere, wenn mehrere Optionen bestehen. Dabei sind sie insbesondere nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden.

Aber: Er darf sich nicht einfach für die risikoreichere Methode entscheiden, ohne den Patienten oder dessen Sorgeberechtigte umfassend einzubinden. Jedenfalls hat der Arzt alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung gewährleisten, und muss umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den Patienten auswirken kann.

2. Pflicht zur Aufklärung über Alternativen

Gibt es mehrere fachlich anerkannte Verfahren, muss der Arzt erklären, was sie jeweils leisten, wo ihre Risiken liegen und wie sie sich voneinander unterscheiden. Nur so kann der Patient (bzw. bei Kindern die Eltern) sein Selbstbestimmungsrecht ausüben und wirksam einwilligen und erst eine nach vollständiger und gewissenhafter Aufklärung des Patienten wirksame Einwilligung („informed consent“) macht den Eingriff in seine körperliche Integrität auch rechtmäßig.

3. Beweislast bei Aufklärungsfehlern liegt beim Arzt

Wurde nicht ausreichend aufgeklärt, trägt im Streitfall nicht der Patient die Beweislast dafür, dass er sich anders entschieden hätte. Es genügt, einen echten Entscheidungskonflikt plausibel darzulegen. In diesem Fall muss dann der Arzt beweisen, dass die Entscheidung auch bei vollständiger Aufklärung gleich ausgefallen wäre – ein schwieriges Unterfangen.

4. Vertrauen ersetzt keine Aufklärung

Das OLG Naumburg hatte die Klage zunächst mit der Begründung abgewiesen, die Eltern hätten dem Ärzteteam vertraut. Das ließ der BGH nicht gelten. Vertrauen kann nicht ersetzen, was rechtlich zwingend ist: eine vollständige und verständliche Information über Behandlungsalternativen. Gerade bei schwerwiegenden Risiken sei zu erwarten, dass Eltern bei vollständiger Aufklärung zumindest ernsthaft über Alternativen nachgedacht hätten.

Fazit für die Praxis:

Für Ärzte – und ebenso für Zahnärzte – bedeutet dieses Urteil: Werden verschiedene Behandlungsmethoden diskutiert, muss der Patient mitentscheiden können. Ein einfacher Hinweis auf eine Alternative im Nebensatz genügt nicht. Die Pflicht zur gemeinsamen Entscheidungsfindung verlangt echte Einbindung – sonst drohen rechtliche Konsequenzen.

Dies gilt insbesondere dann, wenn schwerwiegende Komplikationen (wie hier: Querschnittslähmung) im Raum stehen. Aber auch in der Zahnmedizin – etwa bei der Wahl zwischen Zahnerhalt und Extraktion, Brücke oder Implantat, konservativer oder chirurgischer Parodontaltherapie – kann eine unzureichende Aufklärung schnell zur Haftungsfalle werden.

Die rechtzeitige, dokumentierte und patientenzentrierte Aufklärung ist daher ein Muss – nicht nur medizinisch, sondern auch rechtlich.