LSG München: Anspruch auf Kostenübernahme für Aligner/Invisalign-Methode wegen schwerster Behinderung Urteil vom 25.06.2024

Das Landessozialgericht (LSG) Bayern hat mit Urteil vom 25.06.2024 (Az.: L 5 KR 364/22) den Anspruch eines gesetzlich versicherten Patienten auf Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner/Invisalign-Methode im Einzelfall bejaht, wenn konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO- Gerät) wegen einer schwersten Behinderung und einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung sich als ungeeignet erweisen und den besonderen behinderungsbedingten Belangen des Versicherten widersprechen.

Sachverhalt:
Die 2009 geborene Klägerin leidet am Phelan-McDermid-Syndrom, einer genetisch bedingten globalen Entwicklungsstörung, einhergehend mit schwerer geistiger Behinderung, fehlender Sprachentwicklung und neuromuskulären Symptomen. Bei ihr besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und RF. Sie hat den Pflegegrad 5 und leidet unter einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung (KIG-Einstufung A5).

Unter Vorlage eines kieferorthopädischen Behandlungsplanes beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, die Kostenübernahme der kieferorthopädischen Behandlung mittels Aligner-Therapie mit voraussichtlichen Gesamtkosten i.H.v. 6.591,14 Euro. Dabei verwies der Kieferorthopäde auf die besondere gesundheitliche Situation der Patientin, dass die Behandlung aus medizinischen und nicht aus ästhetischen Gründen durchgeführt werden solle sowie darauf, dass Behandlungsalternativen zur kausalen Behebung des Problems nicht vorhanden seien.

Der daraufhin von der Krankenkasse beauftragte Medizinische Dienst (MDK Bayern) kam in seiner zahnmedizinischen Begutachtung zu dem Ergebnis, dass die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie nicht zu befürworten sei. Die Korrektur der vorliegenden Bisslage mit Alignern sei mechanisch nicht möglich und die im Behandlungsplan angegebenen Ziele könnten damit mechanisch nicht erreicht werden. Die Bisslage könne grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung sei auch mit konventionellen Mitteln möglich. Die KIG-Einstufung A5 wurde bestätigt und zudem wurden die KIG-Einstufungen S4, E5 und D5 festgestellt.

Daraufhin lehnte die Krankenkasse den Antrag mit dem Argument ab, die Invisalign-Technik zähle zu den außervertraglichen Leistungen und sei im Ersatzkassenvertrag Zahnärzte (EKV-Z) nicht geregelt, weil im Rahmen einer vertragszahnärztlichen kieferorthopädischen Behandlung eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung mit herausnehmbaren und/oder festsitzenden Behandlungsgeräten, auf die der Gutachter in seiner Stellungnahme hingewiesen habe, sichergestellt sei.

Der behandelnde Kieferorthopäde reichte darauf eine ausführliche ärztliche Stellungnahme ein: Die Behauptungen der Gutachterin, eine Aligner-Therapie würde „deutlich länger andauern“ und „die therapeutischen Ziele können damit mechanisch nicht erreicht werden“, seien schlicht nicht haltbar. Dafür gebe es zahllose Gegenbeispiele und Urteile. Eine Aligner- Therapie sei für die Klägerin und ihre Mutter das einzig praktikable Therapiemittel. Die Patientin akzeptiere kaum Fremdkörper im Mund. Eine konventionelle aktive Platte oder ein funktionskieferorthopädisches (FKO-)Gerät würde nicht getragen werden. Eine Multiband-Apparatur sähe er äußerst kritisch bzw. unter keinen Umständen als praktikabel an. Erstens weil diese Apparatur äußerst pflegeintensiv sei und bei der Patientin bereits die normalen Mundhygienemaßnahmen von der Mutter äußerst schwierig umgesetzt werden könnten. Zweitens sei die festsitzende Apparatur relativ reparatur- und SOS-anfällig (Druckstellen, Verrutschen und Stiche der Bogen, Bracketverlust, …). Drittens müsste alle 4-8 Wochen der Bogen gewechselt werden; es sei jedoch keine Compliance ohne Narkose möglich, was aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls nicht praktikabel und ethisch vertretbar wäre. Die Klägerin müsse für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in eine Intubationsnarkose (ITN) versetzt werden. Die Aligner hingegen könne die Mutter der Klägerin zuhause einsetzen und wechseln. Sie lägen wie eine „zweite Haut“ auf den Zähnen an und reduzierten das Fremdkörpergefühl auf ein Minimum. Die Therapie sei für die Verbesserung der Kau- sowie der Myofunktion nötig. Das Gutachten des MDK sei eine völlige Ausblendung der tatsächlichen schwierigen Umstände des schweren Falles und der damit einhergehenden Ausnahmesituation.

Trotz alledem hielt die Krankenkasse an ihrer Auffassung fest: Bei der Aligner- Therapie handele es sich um eine neue Behandlungsmethode. Da keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) vorliege, dürfe sie keine Kosten für die kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Therapie übernehmen. Der MDK habe darüber hinaus auf die Methoden der konventionellen kieferorthopädischen Behandlung verwiesen, die bewilligt worden sei.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das LSG bestätigte die Entscheidung des Sozialgerichts München, wonach die Klägerin in ihrem besonderen Einzelfall Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner-Methode zulasten der GKV habe. Dass es sich bei der Aligner-Methode um eine „neue“, bisher nicht empfohlene Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V handele, stehe dem Anspruch der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 25 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 03.05.2008 (Behindertenrechtskonvention, UN-BRK), in Deutschland in Kraft seit 01.01.2019, nicht entgegen.

Anspruch aus § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V

Das Gericht stellt zunächst den Anspruch der Patientin für die kieferorthopädische Behandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V und § 29 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4, § 92 Abs. 1 SGB V fest und führt zu § 2a SGBV aus:

Zutreffend habe das SG auch § 2a SGBV, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist, als weitere Anspruchsgrundlage (i.V.m. den o. g. leistungsrechtlichen Vorschriften) für das Begehren der Klägerin herangezogen. Zwar werde § 2a SGB V (nur) als „Auslegungshilfe“ zur Konkretisierung des verfassungsrechtlich verankerten Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Leistungsrecht der GKV angesehen, die einen gesetzlichen Leistungsausschluss nicht zu überwinden vermag. Den „besonderen Belangen“ Rechnung zu tragen, bedeute nicht, jegliche Leistung zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen. § 2a SGB V verpflichtet jedoch, auf die Belange der behinderten oder chronisch kranken Menschen besonders zu achten, d. h. auch im Sinne einer individuellen Medizin dem jeweils individuellen Gesundheitsproblem volle Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Leistung der GKV sei danach weder ausreichend noch zweckmäßig oder bedarfsgerecht, wenn sie nach Art, Inhalt, Umfang und den Umständen der Leistungserbringung nicht den besonderen Belangen des Leistungsberechtigten entspreche, z. B. wenn sie bestehende Unvereinbarkeiten verschiedener Arzneimittel oder sonstiger Therapiearten nicht beachte.

So liege der Fall hier: Nach dem durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung letztlich nicht mehr bestrittenen Vortrag des Bevollmächtigten der Klägerin und vor allem der zahnärztlich- kieferorthopädischen Stellungnahme sei der Senat davon überzeugt, dass im besonderen Fall der Klägerin die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel sei. Konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO-Gerät) seien für die Klägerin wegen ihrer schweren Erkrankung/Behinderung ungeeignet und würden ihren besonderen behinderungsbedingten Belangen geradezu widersprechen. Vor allem die vom MDK als Behandlungsalternative genannten Zahnextraktionen widersprächen dem Anspruch der Klägerin auf kieferorthopädische Behandlung und seien zudem ethisch nicht vertretbar vor dem Hintergrund einer möglichen Behandlung mit der Aligner-Methode.
Der Senat sei daher der Auffassung, dass im speziellen Fall der Klägerin viel dafür spreche, dass sich die „Auslegungshilfe“ des § 2a SGB V vorliegend ausnahmsweise zu einem Anspruch auf die begehrte Aligner-Versorgung verdichtet.

Kein Ausschluss nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V

Bei der Aligner/Invisalign-Methode handele es sich um eine „neue“ Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, für die es (bisher) keine Empfehlung des G-BA gebe. Das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Regelungen über die Gewährung von Zugang zu Gesundheitsdiensten nach Art. 25 UN-BRK überwinden jedoch im speziellen Fall der Klägerin diesen einfachgesetzlichen Leitungsausschluss.

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dürfe niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen sei nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorlägen. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei auch die UN-BRK bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen, nach der Vertragsstaaten nach Art. 25 BRK insbesondere verpflichtet seien, Menschen mit Behinderung einen in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Zugang zu der für sie notwendigen Gesundheitsversorgung zu verschaffen.

Mit den besonderen behinderungsbedingten zahntechnisch-kieferorthopädischen Belangen und Erfordernissen setze sich die beklagte Krankenkasse in den streitgegenständlichen Verwaltungsentscheidungen indes nicht einmal ansatzweise auseinander. Sie verkenne demgemäß der zahnärztlichen Stellungnahme des Kieferorthopäden, dass die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel und eine Behandlung mit konventionellen Methoden (wie Multiband- /Multibracket-Apparatur oder FKO-Gerät) bei der Klägerin ungeeignet sei. Demgegenüber beschränke sich die (nur) nach Aktenlage erstellte Stellungnahme des MDK Bayern lediglich auf die formelhafte Feststellung, dass „Die Bisslage grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden [kann] oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung ist auch mit konventionellen Mitteln möglich.“

Als weiterer wesentlicher und besonderer Umstand komme hinzu, dass die Klägerin bei einer zahnmedizinischen Behandlung nicht (aktiv) mitwirken könne und für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in Narkose versetzt werden müsse, was mit zusätzlichen, u.U. nicht unerheblichen, gesundheitlichen Risiken verbunden sei.

Nach Auffassung des Senats befindet sich daher die Klägerin in einer Situation ausgeprägter Schutzbedürftigkeit, in der mit der Vorenthaltung der begehrten Leistung und dem Verweis auf herkömmliche Behandlungsmethoden eine Gefahr für ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf Leben nicht ausgeschlossen werden kann und die es rechtfertigt, dass sich der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nach den oben genannten Grundsätzen vorliegend zu einer konkreten Schutzpflicht verdichtet. Jedes andere Ergebnis ist vor diesem Hintergrund weder medizinisch-ethisch noch juristisch vertretbar.

Von Angelika Enderle, erstellt am 27.11.2024, zuletzt aktualisiert am 27.11.2024

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