Rechtstipp 04/2024: Begründung des Steigerungssatzes kann nachgeholt werden
VGH Bayern: Begründung des Steigerungssatzes kann nachgeholt werden
Urteil vom 23.03.2023
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) stellt mit Urteil vom 23.03.2023 (Az.: 24 B 20.549) klar, dass der Behandler die im Rahmen des § 10 Abs. 3 S. 1 GOZ erforderliche Begründung, die für die Fälligstellung der Rechnung erforderlich ist, auch noch im behördlichen sowie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen, erläutern und korrigieren kann.
Nach Ansicht des VGH kann eine Beschränkung dahingehend, dass der Arzt das Überschreiten des 2,3-fachen Satzes nachträglich im Verfahren nur noch erläutern, nicht jedoch um neue, bislang nicht vorgetragene Gründe ergänzen darf, um die Besonderheiten des jeweiligen Behandlungsfalles nach § 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ darzulegen, der GOZ nicht entnommen werden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Der VGH Bayern betont zunächst die allgemeinen Grundsätze der Beihilfegewährung:
„Angemessen und damit beihilfefähig sind Aufwendungen, die dem Zahnarzt nach Maßgabe der GOZ zustehen (BVerwG, 20.03.2008 – 2 C 19.06 –, Rz. 17). Die angesetzten Rechnungsbeträge sind beihilferechtlich als angemessen anzusehen, wenn der Zahnarzt diese bei zutreffender Auslegung der Gebührenordnung zu Recht in Rechnung gestellt hat (BVerwG, 30.05.1996 – 2 C 10.95 –, Rz. 23).“
Zu den Bemessungskriterien des § 5 GOZ führt der VGH Bayern aus:
„Die Annahme von Besonderheiten der Bemessungskriterien im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ setzt voraus, dass die Besonderheiten gerade bei der Behandlung des betreffenden Patienten, abweichend von der großen Mehrzahl der Behandlungsfälle, aufgetreten sind. Dem Ausnahmecharakter des Überschreitens des Schwellenwertes widerspräche es, wenn schon eine vom Arzt allgemein oder häufig, jedenfalls nicht nur bei einzelnen Patienten wegen in ihrer Person liegender Schwierigkeiten angewandte Behandlung als eine das Überschreiten des Schwellenwertes rechtfertigende Besonderheit angesehen würde. Diese Betrachtungsweise ergibt sich bereits aus der in § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ enthaltenen Anordnung einer schriftlichen Begründung beim Überschreiten des Schwellenwertes. Ob „Besonderheiten“ der Bemessungskriterien im Sinne des zweiten Halbsatzes des § 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ vorliegen, die ein Überschreiten des Schwellenwertes rechtfertigen, ist gerichtlich voll nachprüfbar.
Wann der Honoraranspruch des behandelnden Arztes fällig wird, regelt § 10 GOZ. Hierzu ist gem. § 10 Abs. 1 Satz 1 GOZ dem Zahlungspflichtigen eine dieser Verordnung entsprechende Rechnung nach der Anlage 2 zu erteilen, die insbesondere die in § 10 Abs. 2 GOZ aufgeführten Positionen enthalten muss. Soweit die berechnete Gebühr das 2,3-Fache des Gebührensatzes überschreitet, fordert § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ zusätzlich, dass in solchen Fällen dies auf die einzelne Leistung bezogen für den Zahlungspflichtigen verständlich und nachvollziehbar schriftlich begründet werden muss. Auf Verlangen ist die Begründung näher zu erläutern (§ 10 Abs. 3 Satz 2 GOZ). Die Frage, ob der behandelnde Arzt, der eine Gebühr mit einem höheren als dem 2,3-fachen Satz abgerechnet hat, dies nach § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ gegenüber dem Patienten ausreichend begründet hat, ist damit eine Frage der Fälligkeit der Rechnung, die im Rahmen der formellen Voraussetzungen an die Rechnungsstellung zu prüfen ist, denn nur insoweit sind dem Beamten Aufwendungen entstanden. § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ betrifft damit nicht die materielle Rechtmäßigkeit des Vergütungsanspruches, also die Frage, ob die ärztliche Leistung medizinisch notwendig und angemessen ist.
Legt man diesen Maßstab – also die Abgrenzung der formellen Voraussetzungen des Honoraranspruches nach § 10 GOZ und der materiellrechtlichen Anforderungen für das Überschreiten des Schwellenwertes nach § 5 Abs. 2 GOZ – zugrunde, ergibt sich hieraus, dass der behandelnde Arzt im behördlichen sowie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren noch Ausführungen zur Begründung für das Überschreiten des Schwellenwertes vorbringen, seine vorgebrachte Begründung erläutern und diese auch ergänzen darf, um hiermit die Notwendigkeit und Angemessenheit der erbrachten ärztlichen Leistung darzulegen.
Eine Beschränkung dahingehend, dass der Arzt das Überschreiten des 2,3-fachen Satzes nachträglich im Verfahren nur noch erläutern, nicht jedoch um neue, bislang nicht vorgetragene Gründe ergänzen darf, um die Besonderheiten des jeweiligen Behandlungsfalles nach § 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ darzulegen, kann nach Ansicht des erkennenden Senats weder der GOZ noch der BayBhV (Bayerischen Beihilfeverordnung) entnommen werden. Zudem bleibt es der Beihilfestelle unbenommen, bei Zweifeln darüber, ob die in der Begründung dargelegten Umstände den Umfang des Überschreitens des Schwellenwertes rechtfertigen, den Beihilfeberechtigten zu bitten, die Begründung von seinem behandelnden Arzt erläutern zu lassen (§ 10 Abs. 3 Satz 2 GOZ). Zudem kann die Beihilfestelle nach § 28 Abs. 7 Satz 1 BayBhV zur Überprüfung von Notwendigkeit und Angemessenheit einzelner geltend gemachter Aufwendungen Gutachterinnen bzw. Gutachter, Beratungsärztinnen bzw. Beratungsärzte und sonstige geeignete Stellen beteiligen. Ein Anspruch des Beamten darauf, dass dies bereits im Festsetzungsverfahren geschieht, besteht indes nicht. […]
Nach ausführlichen Erläuterungen zu den Begründungsanforderungen befasst sich der VGH mit 17 Leistungsziffern aus der GOZ und GOÄ an zwei Behandlungstagen. Er hält die Berufung allerdings lediglich für die GOÄ-Nr. 5000 und die GOZ-Nrn. 4020, 0050, 5170 und 7030 als begründet.
Zu GOÄ-Nr. 5000: Soweit das Verwaltungsgericht ausführt, der behandelnde Arzt habe keine patientenspezifischen Besonderheiten dargelegt was die Positionierung des Sensors patientenbezogen besonders schwierig gemacht habe, hat das Gericht fehlerhaft die ärztliche Stellungnahme unberücksichtigt gelassen.
Denn der Zahnarzt hat ausgeführt, dass sich die Röntgenaufnahmen deswegen besonders schwierig gestaltet hätten, weil die Klägerin aufgrund ihres Krankheitsbildes – craniomandibuläre Dysfunktion – nur eingeschränkt den Mund öffnen habe können und der analoge Röntgensensor damit nur unter Schmerzen positionierbar gewesen sei, sodass hierfür überdurchschnittlich mehr Zeit benötigt worden sei.
Zu GOZ-Nr. 4020: Das Verwaltungsgericht hat dazu ausgeführt, dass sich aus der Begründung des Zahnarztes „Mehrfachanwendungen und Wiederholungen“ keine Hinweise auf patientenbezogene Umstände ergäben.
Der Zahnarzt hat jedoch in seiner Stellungnahme nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die Maßnahmen insbesondere durch die eingeschränkte Mundöffnung besonders schwierig und zeitaufwändig gestaltet hätten und nicht in einem Behandlungsschritt hätten durchgeführt werden können. Der dadurch bedingt eingeschränkte Zugang sowie das wiederholte Schließen des Mundes wegen Schmerzen im Kiefer Gesichtsbereich (craniomandibuläre Dysfunktion) habe einen außergewöhnlich hohen Zeitaufwand durch die nur schrittweise Durchführung dieser Maßnahme bedingt.
Diese Begründung erscheint nach Ansicht des erkennenden Senates nachvollziehbar. Die individuelle Besonderheit der Klägerin, ihre Krankheit des Kauapparates, haben vorliegend nach überzeugender Ausführung des Zahnarztes einen erhöhten zeitlichen Aufwand verursacht, der in der erhöhten Abrechnungsgebühr zum Ausdruck kommen durfte.
Zu GOZ-Nr. 0050: Der Zahnarzt begründete die besondere Erschwernis bei der Abformung eines Kiefers für ein Situationsmodell in der Rechnung zunächst mit einer „besonders schwierigen Lagefixierung“, ergänzte diese Begründung mit Stellungnahmen weiter mit der motorischen Unruhe der Klägerin am Unterkiefer. Diese motorische Unruhe sei bedingt durch die hochgradige Myo-/Arthropathie der Klägerin, aber auch durch die Schmerzsymptome der craniomandibulären Dysfunktion (CMD).
Der Einwand des Verwaltungsgerichts, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung an einer Myo-/Arthropathie leide, weshalb hiermit eine besondere Erschwernis nicht begründet werden könne, überzeugt nicht. Denn der behandelnde Arzt führt hierzu zutreffend aus, dass nach den wissenschaftlichen Studien der WHO innerhalb der Gruppe der von CMD-Betroffenen (80% einer Gesamtbevölkerung unabhängig vom Zivilisationsgrad) in Europa 3,5% als behandlungsbedürftig anzusehen seien.
Nachdem der Zahnarzt damit ausreichend die Erschwernisse bei der Abformung dargelegt hat (vgl. GOZ-Kommentar, GOZ-Nr. 0050, S. 40: „Zusätzlicher Aufwand: Erschwernisse bei der Abformung [z. B. Stellungsanomalie, inserierende Bänder, Würgereiz]“), war nach Ansicht des erkennenden Senats der erhöhte Ansatz des Gebührensatzes gerechtfertigt und ermessensgerecht.
Zu GOZ-Nrn. 5170: Das Verwaltungsgericht hat bei der GOZ-Nummer 5170 argumentiert, dass das Vorliegen einer hochgradigen Myo-/Arthropathie nicht genüge, um eine außergewöhnliche patientenbezogene Besonderheit zu begründen, da nach Angabe der Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik rund zwei Drittel der Bevölkerung Symptome Myo-/Arthropathie aufzeigen würden. Diese Ausführungen überzeugen aus den zu GOZ-Nummer 0050 dargelegten Gründen nicht.
Vielmehr berechtigt hier ausnahmsweise die vom Zahnarzt vorgebrachte Begründung für die erhöhte Abrechnung, die „besonders schwierige Lagefixierung; hochgradige Myo-/Arthropathie“ nach Ansicht des erkennenden Senats eine erhöhte Abrechnung, da sich gerade bei der bestehenden Krankheit des Kauapparates die Fixierung des Abformlöffels über einen mehrminütigen Zeitraum nachvollziehbar als besonders schwierig gestalten kann, zumal wenn wegen der bestehenden motorischen Unruhe am Unterkiefer ein Ablösen des Löffels bzw. des Abbaumaterials verhindern werden muss, wie der Zahnarzt ausführte. Die motorische Unruhe sei bei der Klägerin insbesondere durch die Krankheit der hochgradigen Myo-/Arthropathie aufgrund des völligen Verlustes der Abstützung rechtsseitig verursacht. Der für die Behandlung abgerechnete 3,5-fache Gebührensatz für die GOZ-Nr. 5170 war damit nach Ansicht des erkennenden Senats gerechtfertigt.
Zu GOZ-Nr. 7030: Entgegen der Ansicht des Beklagten genügt nach Ansicht des erkennenden Senates die Begründung des behandelnden Zahnarztes bei der Gebührenposition GOZ-Nummer 7030 (Wiederherstellung der Funktion eines Aufbissbehelfes) den Anforderungen des § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ. Spätestens mit den Ausführungen des Zahnarztes, wonach der untere Kieferbereich von Zahn 44 bis Zahn 48 durch die Entfernung des Zahnes 47 völlig zahnlos sei und bei der Neuanpassung die entzündlichen, degenerativen Veränderungen des Kiefergelenks und auch die hochgradige Myo-/Arthropathie zu berücksichtigen gewesen seien, hat der Zahnarzt darüber hinaus Besonderheiten im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 1 GOZ vorgetragen, die ein Überschreiten des Gebührensatzes als gerechtfertigt erscheinen lassen. Auch in dem GOZ-Kommentar (GOZ-Nummer 7030, S. 235) wird bei dieser Gebührenposition die erschwerte Abdrucknahme bei eingeschränkter Mundöffnung (M/A) sowie das Vorliegen von Freiendsätteln als „zusätzlicher Aufwand“ aufgeführt.
Nach alledem war die Berufung in Höhe von insgesamt 74,93 Euro begründet.
Juradent-ID: 4684