Neue S2k-Leitlinie Der richtige Implantationszeitpunkt

Die neue S2k-Leitlinie „Implantationszeitpunkte“ der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) soll implantologisch Tätigen eine Entscheidungshilfe für den geeigneten Implantationszeitpunkt an die Hand geben und so die Versorgungsqualität der betroffenen Patientengruppe verbessern. Dafür wurde der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand systematisch aufbereitet. Die wichtigsten Empfehlungen finden Sie hier.

Neben der sicheren und nachhaltigen Wiederherstellung der Funktion und Ästhetik durch den implantatgetragenen Zahnersatz spielen für Patientinnen und Patienten behandlungsspezifische Modalitäten eine zentrale Rolle. So soll die Behandlungsmethode nicht nur möglichst schmerzfrei und mit einer möglichst geringen Zahl an Eingriffen stattfinden, sondern auch mit einer geringen Morbidität und schnellen Heilung assoziiert sein.

Behandlerseitig stehen eine prädiktive Behandlungsmethode sowie ein einfaches und standardisiertes Behandlungsverfahren mit wenigen Komplikationen im Fokus. Die Wahl des Implantationszeitpunkts hat einen direkten Einfluss auf die oben erwähnten Wünsche und kann je nach gewählter Behandlungsmethode im direkten Widerspruch zu diesen stehen [Hammerle et al., 2004].

Folgende Fragestellungen wurden in der Leitlinie fokussiert:

  • Hat die Auswahl des Implantationszeitpunkts einen Einfluss auf das Implantatüberleben?
  • Welche systemischen und welche lokalen Faktoren sind bei der Auswahl des Implantationszeitpunkts zu beachten?

  • Welche zusätzlichen Maßnahmen sind dabei relevant?

Die Entscheidung zum Insertionszeitpunkt eines Implantats ist multifaktoriell. Sie wird nach einer Zahnextraktion insbesondere durch die jeweiligen sich im Laufe der Heilung verändernden weich- und hartgeweblichen Eigenschaften der Alveole bestimmt. Die Extraktion geht in der Regel mit einer sowohl horizontalen als auch vertikalen Dimensionsänderung im Hart- und Weichgewebe von individueller Dynamik einher. Dabei ist der horizontale Knochenverlust im Bereich des Alveolarkamms mit 29 bis 63 Prozent (2,46–4,56 mm) stärker ausgeprägt als der vertikale Knochenverlust mit 11 bis 22 Prozent (0,8–1,5 mm) [Chen et al., 2004; Van der Weijden et al., 2009; Tan et al., 2012].

Tabelle 1 zeigt die verschiedenen Typen der Implantationszeitpunkte vom traditionellen Protokoll (Typ IV) bis hin zur Sofortimplantation (Typ I), bei der in der Regel noch in derselben Sitzung inseriert wird [Hammerle et al., 2004; Mello et al., 2017; Gallucci et al., 2018; Tonetti et al., 2019].

Gegenüberstellung Implantationszeitpunkte und Heilungsverlauf der Extraktionsalveole
Implantationszeitpunkt Einteilung nach ITI-Konsensuskonferenz 2004 [Hammerle et al., 2004] Zeitfenster Physiologische Heilungsphasen nach Zahnextraktion [Chen et al., 2004]
Sofortimplantation Typ I < 1 Tag Blutkoagel
Frühimplantation Typ II 4–8 Wochen Weichgewebliche Abheilung abgeschlossen
Typ III 12–16 Wochen Partielle knöcherne Ausheilung (circa 2/3 der Alveole)
Spätimplantation Typ IV > 16 Wochen Knöcherne Ausheilung der Alveole abgeschlossen
Tab. 1

Therapieplanung

Die Planung für eine Implantattherapie sollte laut Konsens bereits beginnen, sobald die Indikation für eine Zahnextraktion mit anschließender implantologischer Versorgung besteht. Hierbei sollen Patientinnen und Patienten über die relevanten Therapiealternativen aufgeklärt werden. Zudem soll anhand der Anamnese, der klinischen und radiologischen Befunde eine patientenindividuelle Risikoevaluation durchgeführt werden [Heydecke et al., 2012].

Diagnostik

Die angeführten Empfehlungen zur Diagnostik basieren auf allgemeingültigen und in der Literatur beschriebenen notwendigen Untersuchungen, die bei der Therapieentscheidung für eine Implantatinsertion herangezogen werden. Bei Risikopatientinnen und -patienten (zum Beispiel nach Radiatio im Kopf-Halsbereich, Diabetikern, mit Immundefizienz oder unter antiresorptiver Therapie) sind gegebenenfalls zusätzliche Untersuchungen (Blutentnahme, weiterführende Bildgebung) für eine Risikobewertung notwendig. Die notwendigen Basisuntersuchungen zur Therapieentscheidung umfassen:

  • Anamnese
  • klinische Untersuchung

  • radiologische Bildgebung

Neben dem allgemeinmedizinischen Risikoprofil muss eine Beurteilung der lokalen Ausgangssituation vor der geplanten Implantattherapie vorgenommen werden [Kan et al., 2018]. Dazu zählen:

  • Qualität, Quantität und Morphologie des Hartgewebes
  • Qualität, Quantität und Morphologie des Weichgewebes

  • Vorhandensein von lokalen Pathologien

  • Zustand der Nachbarzähne

Implantationszeitpunkte

Die Typen I–IV der Implantationszeitpunkte weisen jeweils unterschiedliche klinische Schwierigkeiten und Behandlungsrisiken auf. Die Auswahl hängt von individuellen patientenseitigen systemischen und lokalen Faktoren ab. Werden die jeweiligen notwendigen spezifischen Auswahlkriterien nicht erfüllt und/oder ist die Durchführung des klinischen Verfahrens von unzureichender Qualität, kann sich der gewählte Zeitpunkt negativ auf das Überleben und den Erfolg auswirken. Die Vorteile der verschiedenen Implantatinsertionsprotokolle und die damit verbundenen Risiken sollten für jeden Fall sorgfältig abgewogen werden.

Spätimplantation (Typ IV)

Bei der Spätimplantation erfolgt die Implantation nach frühestens vier bis sechs Monaten, um eine vollständige weich- und hartgewebliche Abheilung der Extraktionsalveole abzuwarten [Hammerle et al., 2004]. Sie weist exzellente Überlebensraten auf und ist in der Literatur mit den längsten Nachbeobachtungszeiträumen dokumentiert [Heydecke et al., 2012; Moraschini et al., 2015]. Durch die extraktionsbedingten Umbauprozesse im Bereich des Alveolarkamms kann es jedoch in dieser Zeit zu deutlichen Atrophiephänomenen kommen, die eine Augmentation zum Zeitpunkt der Implantatinsertion zwingend erforderlich machen. Dieser physiologische Abbauprozess im Bereich der Extraktionsregion ist in den ersten drei bis sechs Monaten am stärksten ausgeprägt und der Knochenverlust kann in der horizontalen Dimension 29 bis 63 Prozent und in der vertikalen 11 bis 22 Prozent betragen [Chen et al., 2004; Van der Weijden et al., 2009, Tan et al., 2012].

Eine Vielzahl von Erkrankungen beziehungsweise Therapien führt zu einer verzögerten Knochenumbau- und Knochenneubildungsrate. In diesen Fällen wird eine Spätimplantation präferiert, insbesondere um durch die Beobachtung des Heilungsprozesses nach der Zahnextraktion eine klinische Aussage über das Regenerationspotenzial der geplanten Implantatregion treffen zu können [Ullner, 2016].

Maßnahmen zum Erhalt des Alveolarkamms (ARP = Alveolar Ridge Preservation) nach der Zahnextraktion erweisen sich als effektiv hinsichtlich der Vermeidung oder Reduktion von Augmentationen bei Spätimplantationen. In der Literatur werden dafür verschiedene Techniken und Materialien erfolgreich beschrieben [Tröltzsch et al., 2020; Avila-Ortiz et al., 2019]. In einem aktuellen systematischen Review mit Metaanalyse (7 RCT und 3 CCT) zeigte sich hinsichtlich des Implantaterfolgs kein Unterschied zwischen einer Sofortimplantation und einer Spätimplantation nach ARP, jedoch ein signifikant besseres Implantatüberleben (98 vs. 93 Prozent) für Spätimplantationen [Mareque et al., 2021].

Konsensbasiertes Statement 1
In der Literatur ist die Spätimplantation auch bei Vorliegen von lokalen und systemischen Risikofaktoren zum Zeitpunkt der Zahnextraktion mit hohen Implantatüberlebensraten beschrieben.
Literatur: [Moraschini et al., 2015; Schiegnitz 2015; Beckmann 2019; Cosyn et al., 2019; Wiegner, 2021]
starker Konsens
Konsensbasierte Empfehlung 3
Für die Spätimplantation ist von Bedeutung, dass es nach der Zahnextraktion zu Resorptionsvorgängen im Bereich der Alveole kommt, die patientenindividuell zu vertikalem und horizontalem Knochenverlust führen können. Wenn eine Spätimplantation aus patientenspezifischen Gründen indiziert ist, sollte ein Verfahren zur Erhaltung des Alveolarkamms (ARP = Alveolar Ridge Preservation) nach der Zahnextraktion empfohlen werden.
Literatur: [Tröltzsch et al., 2020; Chen et al., 2004; Van der Weijden et al.; 2009, Tan et al., 2012; Buser et al., 2017; Avila-Ortiz et al., 2019; Atieh et al.; 2021]
Konsens

Frühimplantation (Typ II/III)

Die Frühimplantation hat zum Ziel, die Behandlungsdauer einer Spätimplantation zu verkürzen und gleichzeitig einige Nachteile der Sofortimplantation durch eine partielle Ausheilung der Alveole zu umgehen. Einer der wichtigsten Vorteile ist die abgeschlossene Weichgewebsheilung. Dadurch kann unkritischer ein Mukoperiostlappen gebildet werden, wenn augmentative Maßnahmen erforderlich werden. Insbesondere bei akut infizierten Alveolen und ausgeprägten lokalen Pathologien kann durch die Verschiebung des Implantationszeitpunkts das Risiko für eine Wundinfektion beziehungsweise bakterielle Kontamination minimiert werden [Buser et al.; 2017; Graziani et al., 2019].

Konsensbasierte Empfehlung 4
Wenn aufgrund von akuten entzündlichen Prozessen oder anatomischer Kompromittierung eine Sofortimplantation nicht indiziert ist, kann die Frühimplantation empfohlen werden. Die zu diesem Zeitpunkt abgeschlossene weichgewebliche Abheilung ermöglicht die Implantatinsertion sowie augmentative Maßnahmen bei geringerem Resorptionsgrad im Vergleich zur Spätimplantation.
Literatur: [Sanz et al., 2012; Buser et al., 2017; Bassir et al., 2019; Graziani et al., 2019]
starker Konsens

Sofortimplantation (Typ I)

Die klinische Datenlage für Sofortimplantationen ist bereits durch die starke Variabilität in der operativen Technik (Wahl des Zugangs, Implantatregion, -position oder der Augmentationstechnik und des -materials) sehr heterogen. Hinzu kommen eine große Anzahl von möglichen lokalen Einflussfaktoren wie die Beschaffenheit der Hart- und Weichgewebe oder die Entzündungssituation der Alveole. Das erklärt die teilweise weite Spannbreite der Studienergebnisse hinsichtlich Implantatüberleben beziehungsweise Implantaterfolg für die Sofortimplantation. Ein weiterer erschwerender Faktor bei der Bewertung von Randomized controlled trials (RCT) sind die unterschiedlichen Ein- und Ausschlusskriterien beim Vergleich der Sofortimplantation zu anderen Implantationszeitpunkten, die sich bereits durch die veränderte Ausgangssituation hinsichtlich der frischen Extraktionsalveole und der ausgeheilten Alveole ergeben. Die sehr hohen Überlebensraten aus systematischen Reviews [Lang et al., 2012; Slagter et al., 2014] basieren in der Regel auf einer strengen Selektion und der großen klinischen Erfahrung im Bereich der Sofortimplantation der teilnehmenden Studienzentren.

Aktuelle Metaanalysen von RCTs zeigen jedoch eine signifikant schlechtere Überlebensrate für Sofortimplantationen in der Einzelzahnregion im Vergleich zu einer Früh- beziehungsweise Spätimplantation. In Abhängigkeit von den Einschlusskriterien für die klinischen Studien variiert die Differenz bei den Analysen zwischen drei bis vier Prozent (98 versus 95 Prozent [Mello et al., 2017]; 99 versus 95 Prozent [Cosyn et al., 2019], 93 versus 97 Prozent [Chrcanovic et al., 2015]).

Es gibt außerdem nur sehr wenige Studien, die die Erfahrung der Behandelnden als Einflussfaktor für das Implantatüberleben untersuchten [Jemt et al., 2016; Chrcanovic et al., 2017]. Hinsichtlich Sofortimplantationen gibt es keine klinischen Studien mit dieser Fragestellung. Sicherlich ist die Implantatinsertion in die frische Extraktionsalveole technisch deutlich anspruchsvoller als in einer ausgeheilten Situation mit ausreichendem Knochenangebot. Einerseits ist das Erreichen einer guten Primärstabilität deutlich schwerer und stark abhängig vom Restknochen apikal der Extraktionsalveole beziehungsweise von der Breite des interradikulären Septums bei mehrwurzeligen Zähnen. Andererseits wird bei der Sofortimplantation häufig bewusst auf die Bildung eines Mukoperiostlappens verzichtet, um das Trauma auf das Gewebe zu reduzieren, was jedoch die Übersicht deutlich einschränkt. Zusätzlich sind gegebenenfalls additive weich- und/oder hartgewebliche Augmentationen in gleicher Sitzung notwendig, die die Komplexität des chirurgischen Eingriffs erhöhen. Die Sofortimplantation ist damit die techniksensibelste Variante.

Konsensbasiertes Statement 2
Die Sofortimplantationen zum Ersatz einzelner Zähne weisen im Vergleich zu Früh- beziehungsweise Spätimplantationen eine reduzierte Überlebensrate auf.
Literatur: [Chrcanovic et al., 2015; Mello et al., 2017; Cosyn et al., 2019]
starker Konsens
Konsensbasierte Empfehlung 5
Die Sofortimplantation ist ein komplexes chirurgisches Verfahren und erfordert entsprechende klinische Expertise. Da ihr Erfolg zusätzlich von einer Vielzahl von patientenseitigen systemischen und lokalen Faktoren abhängig ist, soll die Indikation für jeden Fall nach sorgfältiger Abwägung individuell getroffen werden.
Literatur: [Chen and Buser 2009; Kan et al., 2018; Cosyn et al., 2019; Gamborena et al., 2021]
starker Konsens

Implantationszeitpunkt bei Risikogruppen

Eine Vielzahl von Erkrankungen beziehungsweise Therapien führt zu einer verzögerten Osseointegration oder sie sind im Vergleich zu gesunden Patientinnen und Patienten mit einer erhöhten Verlustrate für Implantate assoziiert. Dies ist auf eine reduzierte Knochenumbau- und Knochenneubildungsrate zurückzuführen. Die Empfehlungen für Betroffene mit Immundefizienz, Diabetes mellitus, mit Kopf-Hals-Bestrahlung oder unter medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva sowie Parodontitis finden sich in der Leitlinie unter Punkt 6.4. mit Verweis auf die S3-Leitlinien der AWMF zur Implantation bei diesen Patientengruppen.

3-D-Röntgendiagnostik bei der Sofortimplantation

Jede Implantatplanung erfordert eine präoperative röntgenologische Diagnostik. Die 3-D-Röntgendiagnostik bietet eine detaillierte räumliche Beurteilung der anatomischen Strukturen und der pathologischen Veränderungen. Dieser Vorteil kann insbesondere bei einer geplanten Sofortimplantation von großem klinischem Nutzen sein und ermöglicht bereits präoperativ eine Risikoabschätzung hinsichtlich der lokalen Ausgangssituation [Kan et al., 2018]. Die Volumentomografie ist der Computertomografie bei Darstellung der relevanten anatomischen Strukturen in implantologischen Fragestellungen nicht unterlegen, weist jedoch in der Regel eine geringere Strahlenbelastung auf. Daher sollte ihr bei der Diagnostik in der Implantologie entsprechend der aktuellen Leitlinien der Vorzug gegeben werden (Statement 3).

Konsensbasiertes Statement 3
Die Anfertigung eines dreidimensionalen Röntgenbildes kann über die genaue Darstellung der Knochendimension und mögliche lokale Pathologien hinaus wertvolle Hinweise zur lokalen Situation liefern und somit für die Entscheidungsfindung zur Sofortimplantation hilfreich sein. Hierfür verweisen wir auch auf die aktuellen S2k-Leitlinien „Dentale digitale Volumentomographie“ (AWMF-Registernummer: 083-005) und „Indikationen zur implantologischen 3-D-Röntgendiagnostik und navigationsgestützte Implantologie“ (AWMF-Registernummer: 083-011).
Literatur: [Nitsche, 2011; Schulze, 2013; Kan et al., 2018]
starker Konsens

Technisches Vorgehen bei der Sofortimplantation

Die Vorhersagbarkeit des Implantaterfolgs bei der Sofortimplantation ist abhängig von der lokalen Ausgangssituation. Dabei ist die Qualität und Quantität der Hart- und Weichgewebe von zentraler Bedeutung. So ist es klinisch plausibel, bei der Zahnextraktion das Trauma auf das Weich- und Hartgewebe so gering wie möglich zu halten [Gamborena et al., 2021]. Ein operativer Zugang ohne Bildung eines Mukoperiostlappens („Flapless“) scheint einen positiven Effekt auf die Knochenstabilität zu haben [Lin et al., 2014; Zhuang et al., 2018]. Der Verzicht auf die Bildung eines Mukoperiostlappens erschwert jedoch gleichzeitig die lokale Beurteilbarkeit der knöchernen Situation. Inwieweit ein invasiverer Zugang bei der Sofortimplantation gewählt werden sollte, ist im Einzelfall zu diskutieren. Neben den lokalen Faktoren ist entscheidend, ob und welche augmentativen Maßnahmen simultan bei der Implantatinsertion geplant sind.

Konsensbasierte Empfehlung 9
Bei geplanter Sofortimplantation soll die Zahnextraktion chirurgisch so atraumatisch wie möglich erfolgen. Nach der Extraktion soll eine sorgfältige Entfernung des Granulationsgewebes in der Alveole und eine Kürettage des Alveolarknochens vorgenommen werden.
Literatur: [Hammerle et al., 2004; Raes et al., 2011; Iyer and Haribabu 2013; Kan et al., 2018; Zhuang et al., 2018; Tonetti et al., 2019]
starker Konsens

Des Weiteren ist die Primärstabilität ein entscheidender Faktor für die Osseointegration des Implantats [Meredith, 1998]. Ist durch lokale Pathologien oder anatomische Gegebenheiten nicht ausreichend Restknochen nach der Zahnextraktion vorhanden, um das Implantat in der korrekten 3-D-Ausrichtung primärstabil inserieren zu können, sollte von einer Sofortimplantation abgesehen werden [Hammerle et al., 2004; Chrcanovic et al., 2017; Cosyn et al., 2019; Tonetti et al., 2019]. In einer Metaanalyse konnte die Implantatposition als eigenständiger Risikofaktor für die Entstehung von vestibulären Rezessionen bestätigt werden [Hammerle et al., 2012]. In der Oberkieferfront wird eine palatinale Implantatposition angestrebt [Kan et al., 2018].

Konsensbasierte Empfehlung 10
Bei ausgedehnten knöchernen Defekten, die eine Primärstabilität des Implantats verhindern, soll keine Sofortimplantation durchgeführt werden.
Literatur: [GCP; Hammerle et al., 2004; Chrcanovic et al., 2017; Cosyn et al., 2019; Tonetti et al., 2019]
starker Konsens
Konsensbasierte Empfehlung 11
Die Sofortimplantation stellt hinsichtlich der korrekten dreidimensionalen Position und Stabilisierung in der Extraktionsalveole eine besondere Herausforderung dar. In der Oberkieferfront sollte die achsengerechte und positionsgerechte Implantatinsertion palatinal orientiert sein.
Literatur: [Hammerle et al., 2012; Kan et al., 2018]
starker Konsens

Lokale Faktoren bei der Sofortimplantation

Bei der Sofortimplantation sind die lokalen Faktoren von entscheidender Bedeutung für die Therapieplanung und die Abschätzung des Therapieerfolgs [Buser et al., 2017]. In einem Konsensuspapier der ITI aus 2014 wird bei Nichterfüllung der erwähnten lokalen Kriterien sogar von einer Sofortimplantation abgeraten [Morton et al., 2014].

Patientinnen oder Patienten mit einem dünnen Gingivaphänotyp beziehungsweise dünner vestibulärer Knochenlamelle zeigen deutlichere Resorptionsphänomene nach der Zahnextraktion. Die Gefahr für vestibuläre Rezessionen ist bei dieser Ausgangssituation deutlich erhöht [Chen und Buser, 2009; Tan et al., 2012; Chen et al., 2004]. Dies gilt auch bei einer sehr dünnen Knochenlamelle (< 1 mm) oder knöchernen Defekten im Bereich der vestibulären Knochenlamelle. Knochendefekte im Bereich der vestibulären Lamelle sind daher in vielen klinischen Studien Ausschlusskriterien [Cosyn et al., 2019]. Die Vorhersagbarkeit des Therapieerfolgs ist in diesen Fällen deutlich kritischer und muss bei der Therapieplanung berücksichtigt werden. Das erklärt, warum bei gleichzeitig qualitativen und quantitativen weich- und hartgeweblichen Defiziten eine Sofortimplantation insbesondere in der Frontzahnregion aufgrund des hohen ästhetischen Risikos von vielen Autoren abgelehnt wird [Buser et al., 2017].

Durch eine gleichzeitige hart- und/oder weichgewebliche Augmentationsmaßnahme bei der Implantatinsertion kann versucht werden, dem entgegenzuwirken [Lin et al., 2014; Cosyn et al., 2019]. Eine retrospektive Analyse zeigte, dass sich durch simultane hart- und weichgewebliche Augmentation auch bei bestehenden Rezessionen suffiziente Langzeiterfolge bei der Sofortimplantation erzielen lassen [Noelken et al., 2018]. Eine Aussage zur Wahl der Augmentationstechnik beziehungsweise zum Material kann aktuell aufgrund der reduzierten und inhomogenen Datenlage nicht getroffen werden.

Daraus ergeben sich folgende Empfehlungen:

Konsensbasierte Empfehlung 12
Bei Patienten mit einem dicken Gingivatyp, dicker und intakter vestibulärer Knochenlamelle (> 1 mm) und einem geringen horizontalen Spalt zwischen dem Implantat und der vestibulären Knochenlamelle (< 2 mm) kann auf eine simultane Augmentation bei der Sofortimplantation verzichtet werden.
Literatur: [Hammerle et al., 2004; Chen und Buser 2014; Morton et al., 2014]
starker Konsens
Konsensbasierte Empfehlung 13
Bei dünnem Gingivatyp beziehungsweise dünner vestibulärer Knochenlamelle und vertikalem Gewebedefizit in der ästhetischen Zone sollte eine simultane weichgewebliche und/oder hartgewebliche Augmentation/Optimierung des Implantatlagers im Rahmen der Sofortimplantation durchgeführt werden.
Literatur: [Clementini et al., 2015; Kan et al., 2018; Cosyn et al., 2019]
starker Konsens

Komplikationen vermeiden

In einem aktuellen systematischen Review [Saijeva und Juodzbalys, 2020] konnte kein negativer Einfluss auf die Implantatverlustrate beziehungsweise -überlebensrate bei der Sofortimplantation in einer infizierten Extraktionsalveole im Vergleich zu einer nicht infizierten Extraktionsalveole nachgewiesen werden. Anhand der Studienlage kann keine Aussage über das Ausmaß der Infektion getroffen werden, die noch für eine Sofortimplantation akzeptabel erscheint. Jedoch ist es aus klinischer Sicht sicherlich sehr kritisch, in eine akut infizierte und putride Alveole zu implantieren. Starker Konsens bestand im Leitliniengremium, dass eine Sofortimplantation unter sorgfältiger Abwägung durchgeführt werden kann, das infizierte Gewebe jedoch vollständig entfernt werden soll. Zudem sollte eine perioperative systemische Antibiotikaapplikation durchgeführt werden.

Die Sofortimplantation ist eine techniksensitive Behandlungsmethode und somit mit einem relevanten Komplikationsrisiko behaftet. Dieses Risiko kann durch additive Maßnahmen wie Augmentation oder Sofortversorgungen im Rahmen der Sofortimplantation erhöht werden. Zur Vermeidung von biologischen und technischen Komplikationen in der Einheilphase soll bei einer Sofortimplantation darüber hinaus, insbesondere in Kombination mit einer Sofortversorgung, eine engmaschige klinische Nachsorge erfolgen [GCP; Lang et al., 2012; Saijeva und Juodzbalys, 2020].

Fazit

Die Behandlungsplanung für eine Implantattherapie sollte beginnen, sobald die Indikation für eine Zahnextraktion mit anschließender implantologischer Versorgung besteht. Hierbei weisen die zur Möglichkeit stehenden Implantationszeitpunkte differenzierte Indikationsbereiche mit unterschiedlichen klinischen Schwierigkeiten und Behandlungsrisiken auf. Dabei wird die Auswahl des Implantationszeitpunkts durch die individuellen, patientenseitigen systemischen und lokalen Faktoren bestimmt.

Hinsichtlich der systemischen Risikofaktoren ist zu beachten, dass eine Vielzahl von Erkrankungen beziehungsweise Therapien in einer kompromittierten Knochenumbau- und Neubildungsrate resultieren. Diese gestörte Knochenphysiologie sollte die Zahnärztin oder der Zahnarzt bei der Festlegung des Implantationszeitpunkts berücksichtigen. Der gewählte Implantationszeitpunkt kann sich negativ auf das Überleben und den Erfolg auswirken, wenn die jeweiligen notwendigen spezifischen Voraussetzungen nicht oder nur teilweise erfüllt werden.

Weiterhin wird die Entscheidung zum Insertionszeitpunkt von einer Vielzahl an lokalen Faktoren beeinflusst und ist direkt abhängig von den jeweiligen weichgeweblichen und hartgeweblichen Eigenschaften der sich in Heilung befindlichen Alveole. Die Vorhersagbarkeit des Implantaterfolgs wird maßgeblich von diesen lokalen Faktoren bestimmt, wobei diese Ausgangssituation durch augmentative Maßnahmen modifiziert werden kann. Die Implantatinsertion ist eine techniksensitive chirurgische Intervention, die in Abhängigkeit vom Implantationszeitpunkt in ihrer Komplexität variiert und somit unterschiedliche Anforderungen an die klinische Expertise des Behandlungsteams stellt.

Letztlich müssen die Vor- und Nachteile der verschiedenen Implantatinsertions-Protokolle patientenindividuell analysiert und für jeden Fall sorgfältig abgewogen werden.

Alle Details und Statements finden sich in der Leitlinie: DGI, DGZMK: „Implantationszeitpunkte“, Langfassung, Version 1.0, 2022, AWMF-Registriernummer: 083-040

Autoren: Keyvan Sagheb, Isabel Becker, Kawe Sagheb, Stefan Wentaschek, Robert Nölken, Eik Schiegnitz, Bilal Al-Nawas, Christian Walter

Neue Praxis-Materialliste der KZV Hamburg aktuell

Praxismaterialkosten Zahnersatz

Leider ist die KZV-Nordrhein nicht in der Lage für einen nicht unerheblichen Beitrag unsererseits Ihren Mitgliedern derartiges zur Verfügung zu stellen.

Darum diese Information für unsere Mitglieder von anderer Stelle.

Verbessert Vergrößerung die Präparationsqualität?

Lupenbrillen und Mikroskope sind gut für Körperhaltung und Augen

Die Qualität von Präparationen beeinflusst die Passgenauigkeit und den Randschluss festsitzender prothetischer Versorgungen. Besonders ­hohe Anforderungen gelten für mit CAD/CAM-Systemen hergestellte Kronen und Brücken [1].

Kurz und klar

  • Vergrößernde Sehhilfen können über verbesserte Arbeitshaltung und Augenschonung körperliche Langzeitschäden reduzieren.
  • Die Qualität von Präparationsergebnissen ist mit Sehhilfen nach einer Literaturübersicht in vitro höher, aber nicht signifikant.
  • Die Ergebnisqualität wurde überwiegend bei unerfahrenen Anwendern (Studenten) untersucht und könnte mit mehr Erfahrung weiter steigen.
  • Störfaktoren bei der Behandlung stellen die Übertragbarkeit auf klinische Situationen in Frage (Forschungsbedarf!).
  • Eine stärkere Vergrößerung scheint nicht mit besseren Präparationsergebnissen verbunden zu sein.
  • Die zunehmende Verwendung intraoraler Scanner könnte den Stellenwert von Vergrößerungshilfen verändern.
  • Möglicherweise lassen sich auch neu verfügbare Miniaturkameras für Lupenbrillen nutzen, die für die Patientenaufklärung vorgesehen sind.

Mehr Präzision, weniger Belastung für die Augen

Eine nicht-systematische Übersichtsarbeit aus Brasilien kommt zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass vergrößernde Sehhilfen die ­Präparationsqualität verbessern, wahrscheinlich durch größere Präzision, günstigere Arbeits­haltung und geringere Belastung der ­Augen [2].

Die ergonomischen Vorteile sind laut Review-Artikel gut dokumentiert, insbesondere die Entlastung des Visus. Die reduzierte Fokussierung wirkt sich günstig auf die Entwicklung von Altersweitsichtigkeit aus, also auf die reduzierte Sehfähigkeit im Nahbereich. In Bezug auf die Arbeitshaltung werden vor allem Lupenbrillen nach Kepler-Bauart und Mikroskope gut bewertet, weniger Lupenbrillen nach Galilei mit geringerer Vergrößerungsleistung und ohne optimiertem Arbeitsabstand [3]. Wichtig ist weiterhin eine gute Beleuchtung, wobei bei LED-Licht spezielle Filter für Blau-Ausgleich verwendet werden sollten [3].

Präparationsqualität 
mit Fragen

Die Qualität von Präparationen lässt sich dagegen laut vorliegender Studiendaten mit vergrößernden Sehhilfen statistisch nicht signifikant steigern [2]. Da sie aber auch nicht beeinträchtigt wird, könnte angesichts der großen Anzahl von Präparationen im Arbeitsleben dennoch ein wichtiger positiver Effekt eintreten. Hinzu kommt die oben erwähnte bessere Ergonomie, die über erhöhte Leistungsfähigkeit der Behandelnden langfristig ebenfalls die Qualität der Arbeitsergebnisse fördern dürfte.

Ein weiterer Faktor ist laut Literatur der motorische Trainingseffekt, der durch das Arbeiten mit Vergrößerung erreicht werden kann [2]. Stärkere Vergrößerung, zum Beispiel mit Mikroskopen im Vergleich zu Lupenbrillen, hat dagegen keinen zusätzlichen Effekt.

Überwiegend Studenten: relativierende Effekte

Die Tatsache, dass die Probanden in den ausgewerteten Studien überwiegend Studenten waren, sehen die Autoren nur bedingt als verzerrenden Faktor [2]. So könne einerseits angenommen werden, dass unerfahrene Zahnärzte (Oralmediziner) am Patienten zum Beispiel mit plötzlichen Patientenbewegungen, eingeschränkter Sicht durch Zunge und Wangen oder Speichel zurechtkommen müssen und damit der positive Effekt vergrößernder Sehhilfen reduziert wird.

Andererseits könnten Anwender durch langfristiges Training bessere Ergebnisse erzielen als Berufsanfänger, so dass die Daten mit erfahrenen Probanden besser ausfallen könnten. Um diese Annahmen zu prüfen, sei aber weitere Forschung notwendig.

Intraoralscanner und Minikameras

Die Qualität von Präparationsergebnissen lässt sich auch durch die vergrößerte Darstellung digitaler intraoraler Scans am Bildschirm prüfen. Mit Augmented-Reality-Brillen lässt sich dies auch während der Präparation und ohne den Blick auf einen Monitor erreichen [4].

Eine Alternative könnten hier auch Lupenbrillen mit aufgesetzten Minikameras sein, die über Fußpedalsteuerung Fotos für die Patientenkommunikation aufnehmen. Diese ließen sich grundsätzlich auch für die Kontrolle der eigenen Arbeitsergebnisse einsetzen. Studien, die diese neueren Technologien mit der Verwendung konventioneller Lupenbrillen vergleichen, fehlen im Review-­Artikel [2].

Reale Verbesserung erwartbar

Fazit: Die methodische Qualität der für das Review ausgewerteten Studien bewerten die Autoren als „mäßig“ [2]. Bei allen Schlussfolgerungen sei zu bedenken, dass die Ergebnisse nur in vitro und überwiegend von Studenten ermittelt wurden.

Sie lassen sich damit nur im Analogschluss auf die klinische Situation übertragen und genügen damit keinen höheren wissenschaftlichen Ansprüchen. Der zunehmende Einsatz insbesondere von Lupenbrillen in der Praxis spricht aber dafür, dass diese die tägliche Arbeit – und wahrscheinlich auch die Ergebnisqualität – in unterschiedlichen Anwendungsbereichen im klinischen Alltag ganz real verbessern.

Dr. Jan H. Koch, Freising

Der Autor erklärt, dass er in Verbindung mit diesem Beitrag keine Interessenkonflikte hat.

Hinweis: Beiträge in der Rubrik Oralmedizin kompakt können nicht die klinische Einschätzung der Leser ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der ­Basis aktueller Literatur und/oder von Experten-Empfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen

Literatur

[1] Renne W, McGill ST, Forshee KV, et al. Predicting marginal fit of CAD/CAM crowns based on the presence or absence of common preparation errors. J Prosthet Dent. 2012;108(5):310-5.
[2] de Oliveira FAS, Moraschini V, de Almeida DCF, et al. Effects of magnification on restorative dental preparation performance: a scoping review and level of evidence mapping. Clinical Oral Investigations. 2024;28(8):447.
[3] Arnold M. Integration von Lupenbrillen und Dentalmikroskopen in die Praxis. zahnärztliche mitteilungen. 2020;110(17):64-73.
[4] Koch JH. Neuigkeiten auf der IDS 2019. Praxisrelevantes entdecken im digitalen Rauschen zahnärztliche mitteilungen. 2019;109(5):80-5.

Was bei einer Praxisabgabe zu beachten ist

In absehbarer Zeit will ich in den Ruhestand gehen – und was jetzt? Diese Frage stellen sich viele Praxisinhaberinnen und -inhaber früher oder später. Organisatorisch und steuerrechtlich ist bei einer Praxisübergabe vieles zu beachten, zeigte eine Veranstaltung der Apobank.

Rund 20 Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind älter als 60 Jahre – und einige davon wollen zeitnah oder auf Sicht ihre Praxen abgeben. Drastischer formulierte es Moderatorin und Abteilungsleiterin bei der Apobank Nora Zumdick: „Wenn wir jetzt davon ausgehen, dass das gewünschte Renteneintrittsalter mit 64 Jahren beginnt, dann steht im Prinzip gerade eine ganze Generation vor der Frage, wie gebe ich meine Praxis ab.“ Wie Ärztinnen und Ärzte dabei vorgehen sollten und was zu beachten ist, darüber hat die Apobank am Mittwoch informiert.

Möchte man die Praxis abgeben, stellt sich zunächst die Frage, an wen. Während einige Praxen in der Familie bleiben, gehen andere an Ärztinnen und Ärzte von außerhalb der Familie. In letzterem Fall ist zu entscheiden, ob man sich für das Vorgehen Hilfe holt. Aus Sicht der Apobank, die sowohl Unterstützung für Praxisverkäufer als auch -käufer anbietet, ist der Fall natürlich klar. Umsonst macht das der Finanzdienstleister jedoch nicht: Für die Wertermittlung einer Einzelpraxis nimmt er 1.500 Euro netto, für Gemeinschaftspraxen kostet die Leistung 1.800 Euro. Weitere Beratungsleistung werden auf Stundenbasis abgerechnet.

Für den Internisten Dr. Stephan Krinke aus Leichlingen hat sich der Preis gelohnt. Er führe gemeinsam mit einem Kollegen eine hausärztliche Gemeinschaftspraxis, doch beide wollten zeitnah in den Ruhestand gehen. Sie hätten sich „konzeptionslos“ auf die Suche nach einer Praxisnachfolge begeben, unzählige teils „komische“ Gespräche geführt und mehrere Medizinische Versorgungszentren abgewehrt. Aber sie hätten nicht gewusst, wie sie vorgehen sollten und wie viel Geld sie für ihre Praxis verlangen sollten. Für sie war deshalb der Kontakt zur Apobank „der Gamechanger“.

Was Apobank-Praxisberater Carsten Bauer für Krinke – insgesamt nach eigenen Angaben für bis zu 30 Praxen im Jahr – machte, war zunächst, den Praxiswert zu ermitteln. Es gebe verschiedene Möglichkeiten dafür. Die Apobank nutze ein „modifiziertes Ertragswertverfahren“. Auf die Details ging Bauer nicht ein, erzählte aber, man schaue auf den Umsatz sowie dessen Zusammensetzung, auf die Kostenstruktur, den Ort der Praxis, die Fachrichtung und ermittle daraus einen Wert. Dieser werde außerdem mit den Preisen vergleichbarer Praxen abgeglichen. Auch die Preisvorstellung derer, die eine Praxis abgeben wollten, spiele zur Preisfindung eine Rolle.

Wie verhandelt man nun diesen Preis mit potenziellen Käufern? Bauer rät, sie erst durch die Praxis zu führen und dafür zu begeistern und erst danach den Kaufpreis zu nennen. Zu diesen Gesprächen könne man auch Praxisberater hinzuholen.

Diese Steuern fallen an

Nach Angaben von Bauer lässt sich eine Praxis in NRW für durchschnittlich 150.000 bis 170.000 Euro verkaufen – vor Steuern. „Das Finanzamt will in der Regel eine Scheibe abhaben vom Verkaufspreis“, so Jens Hellmann, Diplom-Finanzwirt und Steuerberater bei der Trilling – Hellmann & Partner. Aber er macht Hoffnung: „Die gute Nachricht ist, dass der Verkaufspreis selten der Betrag ist, der auch im Steuerbescheid landet.“

Nicht der Verkaufspreis, sondern der Veräußerungsgewinn stehe im Steuerbescheid. Beides könne sich „erheblich“ unterscheiden. Ein Beispiel von Hellmann: Ein Arzt verkauft seine Praxis für 200.000 Euro. Für die Ermittlung des Veräußerungsgewinns geht der Buchwert des Betriebsvermögens ab, in diesem Fall 45.000 Euro. Gemeint sind alle nicht abgeschriebenen Investitionen in der Praxis. Außerdem werden die Veräußerungskosten in Höhe von 5.000 Euro abgezogen. Es bleibt ein Veräußerungsgewinn von 150.000 Euro.

Von diesem Veräußerungsgewinn hängt die Höhe des Steuerfreibetrags ab, der nach Hellmanns Angaben noch abgezogen werden kann. Dieser beträgt maximal 45.000 Euro. Das Finanzamt gewährt ihn nur einmal im Leben Menschen, die älter sind als 55 Jahre oder dauerhaft berufsunfähig. „Man merkt an dieser Stelle schon, es macht Sinn, einen Experten daran zu lassen“, so Hellmann – und empfiehlt damit, Steuerberaterinnen und -berater aufzusuchen, sollte man eine Praxis verkaufen wollen.

Den eigenen Kindern Praxis schenken oder verkaufen?

Viele junge Ärztinnen und Ärzte treten in die beruflichen Fußstapfen ihrer Eltern und wollen deren Praxis übernehmen. Häufig wollten Eltern eine Praxis aber nicht an ihre Kinder verkaufen. Aber ergibt eine Schenkung steuerlich Sinn? „Steuerlich gesehen muss man sagen, aufgrund der Steuersätze, über die wir eben geredet haben, macht das total Sinn, einen Kaufpreis anzusetzen“, rät Jens Hellmann. Denn: Der Veräußerungspreis, an dem das Finanzamt die Steuerlast ermittelt, sei deutlich geringer als der Verkaufspreis. Außerdem gebe es noch den zweiten Steuersatz. Bei einer Schenkung würden Mutter oder Vater jedoch im schlimmsten Fall ein Viertel des Werts ans Finanzamt zahlen. „Das wäre schon hoch.“ Außerdem könnten die Kinder den Praxis-Kaufpreis steuerlich abschreiben über die nächsten Jahre.

Ein Punkt, den sich diejenigen, die eine Praxis verkaufen möchten, ebenfalls überlegen müssten, sei, wie eine Übergabe ablaufen soll. Will man sukzessive aussteigen oder direkt komplett raus sein? Für den Leichlinger Hausarzt und seinen Kollegen war klar, sie wollten ihre Praxis schleichend übergeben. „Wir sind zwei Jahre mit ihm Partner.“ Danach wollten sie sich zurückziehen. Auch Praxisberater Bauer hält das für eine gute Vorgehensweise, wobei das nicht immer der Sichtweise des Käufers entspreche. Deshalb glaubt er, „es ist immer wichtig, flexibel zu sein“.

Es gibt also vieles abzustimmen. Deshalb empfiehlt er auch, frühzeitig mit den Planungen zu beginnen. Grob überlegen solle man idealerweise schon zehn Jahre vor einer geplanten Übergabe. Fünf Jahre vor Übergabe könne man sich dann konkreten Fragen stellen: Welche Optionen gibt es gerade? Was möchten beide Seiten, wie findet man zusammen? Vier Jahre lang hat die Suche bei Krinke gedauert. Und das deckt sich auch mit der Erfahrung der Apobank: „Drei bis fünf Jahre kann das Ganze wirklich mal dauern, also man kann schon sagen, es ist leider meistens nicht in einem Jahr erledigt“, so Moderatorin Zumdick.

Amalgam-Aus: Neue Abrechnungsregelung im BEMA

Füllungen: BEMA und Mehrkostenvereinbarung
Da hierzulande in den meisten Praxen schon seit Jahren nur selten oder gar keine Amalgamfüllungen mehr gelegt werden, ändert sich für die meisten praxen mit dem Amalgam-Aus zum Jahresanfang nicht viel – oder doch? Was sich in der Gl(/-Abrechnung ändert und warum jetzt die Kostenkalkulation einer Füllung wichtiger denn je ist,. ln vielen Praxen kommen bereits ausschließlich Komposit-Materialien zum Einsatz, auch als Basisversorgung.
Was ändert sich durch das Amalgam-Aus ab 1.1.2025 in der Abrechnung der Basisversorgung?
Bisher regelte der BEMA Ziffer 13 a bis d die Abrechnung für eine Füllung mit einem plastischen Füllmaterial und die Ziffern 13 e bis h galten ausschließlich für Kompositfüllungen in der Adhäsivtechnik im Seitenzahnbereich bei konkret definierten Patientengruppen.
Ab Januar 25 werden zwar 13 a bis d aufgewertet, allerdings nur minimal. Letztlich können nur rund ein bis sechs Euro mehr, gestaffelt von der ein- bis zur mehr als dreiflächigen Füllung, oder Eckenaufbauten berechnet werden. lm Klartext heißt das: Eine einflächige Füllung nach 13 a ist dann für ca.40 Euro und eine zweiflächige Füllung für rund 47 Euro zu erbringen. Darin sehe ich keine nennenswerte Aufwertung der GKV-Füllung. Denn bei den Materialkosten, die hier nicht gesondert berechnet werden können, werden sich die höheren Kosten für die Amalgamalternativen bemerkbar machen. Zwar sind die infrage kommenden selbstadhäsiven Basismaterialien wie Glasionomerzemente günstiger als Komposit-Materialien, dennoch ist ein wirtschaftliches Arbeiten zum GKV-Tarif unmöglich.
Die gute Nachricht ist: Die Mehrkostenregelung bleibt.
Für eine Versorgung mit Füllungsmaterialien, die außerhalb der Basisversorgung liegen, kann also eine Mehrkostenvereinbarung nach § 28 Abs. 2 SCB V mit dem Patienten getroffen werden. Die BEMA-sachleistung wird nach wie vor angerechnet.
Stichwort Kostenkalkulation: Lässt sich zum GKV-Tarif kostendeckend arbeiten?
Leider nein. Daher ist es jetzt wichtiger denn je, dass sich die Zahnärzte vor dem Hintergrund der neuen Regelungen eine gute Kostentransparenz verschaffen. Die konkrete Kostenkalkulation einer Basis-Füllung ist empfehlenswert, aber in vielen Praxls noch nicht geschehen.
Das lässt sich relativ einfach berechnen:
In der Regel kann man für eine selbstadhäsive Basisfüllung rund ei ne halbe Stunde Belegungszeit des Behandlungszimmers kalkulieren.
Nach GKV-Tarif werden ca. 40 bis71 Euro berechnet werden können. Je nach Fall ist eine bMF und/oder Lokalanästhesie notwendig und kann berechnet werden.
Aber: Stellen wir dann den in Deutschland durchschnittlichen zahnärztlichen Stundensatz von rund 400 Euro dagegen, tut sich ein Defizit auf. Das kann je nach Materialkosten noch variieren.
Denn auch darüber, ob in einer Praxis möglicherweise ein ,,höherpreisiges“ Basisprodukt zum Einsatz kommt, ist bei einer Erstattung in Höhe von rund 40 bis 7’l Euro unterwirtschaftlichen Aspekten nachzudenken.
Die Zahnärzte sind also gefordert, die Basisversorgung gut zu kalkulieren.
Gegenüber dem Patienten werden sie vor der kommunikativen Herausforderung stehen, die Vorteile einer Füllung mit einem höherwertigen Komposit-Material, dass über eine Mehrkostenvereinbarung abgerechnet wird, verständlich zu erklären.
Ein Argument für eine Mehrkostenvereinbarung ist die Qualität der Füllung.
Was ändert sich in der Abrechnung von Füllungen im Seitenzahnbereich bei besonderen Patientengruppen?
Die BEMA Ziffern 13 e bis h für adhäsive Komposit-Füllungen im Seitenzahnbereich regelten die Basisversorgung für Kinder bis 15 Jahre, Schwangere, Stillende und Patienten mit einer Amalgamallergie oder einer Kontraindikation – und fallen nun komplett weg. Diese Patientengruppe wird auch zuzahlungsfrei mit selbstadhäsiven Materialien im Seitenzahnbereich versorgt. Für adhäsiv befestigte Kompositver-sorgungen muss dann eine Mehrkostenvereinbarung vereinbart werden. Für Kinderzahnärzte bedeutet diese neue Regelung, dass sie ein Bulkfill-Material nur im Falle einer Ausnahmeindikation im Seitenzahnbereich, also wenn ein selbst adhäsives Material nicht indiziert ist, über den BEMA abrechnen können. Für alle anderen Fällen ist der Einsatz von adhäsiv befestigten Kompositen nur über eine Mehrkostenvereinbarung mit den Eltern der jungen Patienten möglich.
Hier eröffnet sich die Problematik einer Zwei-Klassen-Zahnmedizin, weil Kinder, deren Eltern keine Zuzahlung stemmen können, nicht mehr mit einem langlebigeren adhäsiven Komposit versorgt werden. Diesen Fakt können Kinderzahnärzte jedoch auch dazu nutzen, die Individualprophylaxe für die weitere Kariesprävention zu kommunizieren. Stichwort Bulk-Fill-Materialien:
In Ausnahmefällen können diese ohne Zuzahlung abgerechnet werden.
Wie muss das begründet werden?
Das lndikationsspektrum für Glasionomerzemente deckt ein-, zwei- und zur Not vielleicht auch noch eine dreiflächige Füllung ab. Doch für mehrflächige Füllungen ist das Material nicht geeignet. In solchen Ausnahmefällen können Bulk-Fill-Composits ins Spiel kommen – das ist für die Abrechnung jedoch genau zu dokumentieren.

Ist damit zu rechnen, dass sich zukünftig mehr Patienten für eine Basisversorgung entscheiden?
Weil die Patienten seit vielen Jahren wissen, dass eine hochwertigere Füllung mit Mehrkosten verbunden ist, wird das allgemein für unwahrscheinlich gehalten.
Ob sich Patienten für eine adhäsiv befestigte Restauration im Seitenzahnbereich oder für Restaurationen in Mehrschicht- und Mehrfarbentechnik entscheiden, hängt allein davon ab, wie gut die Zahnärzte mit ihnen kommunizieren.
Müssen sich Zahnärzte und Mitarbeitende ab Januar auf mehr Aufklärungs- und Kommunikationsarbeit einstellen? Wie bereitet man sich am besten vor?
Zunächst sollte sich jedes Praxisteam jetzt mit dem Thema Amalgam Verbot und den neuen Abrechnungspositionen auseinandersetzen. Es ist schade, dass der BEMA nun in einer Art Schnellschuss geändert wird, aber für die Zahnärzte noch unklar ist, welche Materialien in welche Anwendungskategorien fallen. Daher stehen die Zahnärzte jetzt davor, die Produkte, die sie täglich einsetzen, im Hinblick auf die neue Regelung einzuordnen. Außerdem ist es wichtig, dass alle Zahnärzte und Mitarbeitenden einer Praxis in der Kommunikation rund um dieses Thema eine einheitliche Tonspur gegenüber ihren Patienten fahren. Das heißt: eine einheitliche Argumentation, wie die Patienten über die unterschiedlichen Materialeigenschaften der Füllungsmaterialien informiert werden. Und letztlich gilt es, im Einzelfall darüber aufzuklären, ob die Indikation des Patienten mit einem Basis-Material sicher versorgt werden kann oder ob es eine ,,bessere“ Materialalternative – wenn auch mit Zuzahlung – gibt. Das alles sollte jetzt in Team-Meetings besprochen werden, damit im Januar möglichst keine Fragen mehr offen sind.

Berechnung der Praxismaterialkosten für Zahnersatz / Quelle: KZV Hamburg

Praxismaterialkosten Zahnersatz

 

Der BEMA-Strukturausschuss hat eine Neuberechnung der letztmalig Anfang 2021 aktualisierten Liste der Praxismaterialkosten durchgeführt. Bitte beachten Sie die neu ermittelte durchschnittliche Preisspanne. Die Preisspanne beinhaltet in einigen Fällen sowohl Hand- als auch Maschinenmischverfahren.

 

Überschreiten Ihre Abrechnungen die Empfehlungen, bedarf es in jedem Einzelfall des Nachweises für die erhöhten Kosten auf dem Eigenbeleg:

 

Zur eigenständigen Ermittlung der Materialkosten pro Einzelfall gehen sie bitte wie folgt vor:

 

Preis/Gramm

 

= Preis der Packung plus MwSt. geteilt durch Gesamtgrammzahl

 

Einzelfallkosten = Preis/Gramm multipliziert mit individuell verbrauchter Menge
    in Gramm (ggf. zzgl. Kosten für Mischkanülen)

 

 

 

Material

 

 

Durchschnittliche Preisspanne

 

Alginat

 

 

 3,59 €       – 

 

 

 5,15 €

 

 

A-Silikon

(einphasig)

 

13,34 €      –

 

23,24 €

 

K-Silikon

(einphasig)

 

 8,42 €     –

 

15,21 €

 

Polyäther

(+ Härter)

 

29,48 €     –

 

38,22 €

 

Doppelmisch/Zweiphasen

(A- bzw. K-Silikon)

 

17,47 €     –

 

37,13 €

 

Prov. Krone/Brückenglied individuell

 

 

 7,33 €      –

 

15,99 €

 

 

Konfektionierter Stift

 

 

19,96 €     –

 

29,56 €

 

Material für direkte

Teil-Unterfütterung

 

25,65 €     –

 

45,08 €

Material  für semipermanente

Schienungen, je Zwischenraum

 

5,90 €     –

 

11,31 €

 

 

 

 

KZV Hamburg, Stand 4/2024

Die Rolle die Zahnmedizin bei der Erkennung vernachlässigter Kinder

Die Kinderschutzleitlinie regelt über Berufsgrenzen hinweg, wie Kindeswohlgefährdung erkannt und abgewendet werden soll. Die Rolle der Zahnmedizin könnte bei der Leitlinien-Aktualisierung noch an Gewicht gewinnen.  

Der Schutz von Kindern und Jugend­lichen in Deutschland vor Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch rückt nicht zuletzt aufgrund spektakulärer Verbrechen immer wieder in den öffentlichen Fokus. Seit 2011 unternahm der Gesetzgeber vermehrt Anstrengungen, die Gefährdung des Kindeswohls frühzeitiger und systematischer zu erkennen. So wurde im Rahmen des „Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch“ im Jahr 2011 die Entscheidung getroffen, eine wissenschaftliche und übergeordnete Leitlinie zur Erkennung, Feststellung und Sicherung von Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexuellem Missbrauch und zum Schutz vor Reviktimisierung zu ent­wickeln.

Acht Jahre später, Anfang 2019, wurde dann die S3+ Kinderschutzleitlinie (AWMF-Registernummer 027–069) veröffentlicht [1], an der insgesamt 82 Fachgesellschaften, Organisationen und Bundesministerien mitgearbeitet haben − so viele wie an keiner anderen Leitlinie zuvor. Ziel der Leitlinie: Alle Fachkräfte aus Medizin, Pädagogik und öffentlicher Ordnung für das Erkennen und den Umgang mit einer Kindeswohlgefährdung zu sensibilisieren und in ihrer Arbeit zu unterstützen. Seit Anfang dieses Jahres ist die Leitlinie ausgelaufen und sie müsste binnen fünf Jahren überarbeitet werden. Eine erneute Finanzierung durch das Bundesgesundheitsministerium steht allerdings nicht zur Verfügung. Die bei der Leitlinienarbeit federführende Deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) versucht daher seit 2022, eine Finanzierung über den Innovationsfonds des G-BA zu erreichen.

Prävalenz mit vermutlich hoher Dunkelziffer

Laut Statistischem Bundesamt meldeten die Jugendämter im Jahr 2022 in Deutschland insgesamt 62.300 Kindeswohlgefährdungen durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt, was einem neuen Höchststand entspricht [2]. Etwa vier von fünf betroffenen Kindern waren jünger als 14 Jahre.

Die Hinweise von Polizei und Justiz haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Auch die Schutzmaßnahmen sind in den vergangenen 30 Jahren um das Doppelte gestiegen, in den meisten Fällen durch eine vorläufige Inobhutnahme durch die Jugendämter.

Der weitaus häufigste Anlass für ­eine Schutzmaßnahme nach der unbegleiteten Einreise aus dem Ausland (43 Prozent) war 2022 die Überforderung der Eltern (26 Prozent), gefolgt von Vernachlässigung (11 Prozent). Doch diese Zahlen dürften wohl nur die Spitze des Eisbergs darstellen, die Dunkelziffer könnte noch weit höher liegen.

Karies als Indiz für Vernachlässigung

„Schätzungen gehen davon aus, dass etwa fünf bis zehn Prozent aller Kinder bis sechs Jahren von Vernachlässigung bedroht sind, was in absoluten Zahlen einer viertel bis halben Million Kindern in Deutschland entspricht“, erklärt Dr. Reinhard Schilke, Oberarzt der Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventivzahnmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er ist von der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnmedizin (DGKiZ) mandatiert für die Erstellung der alten und neuen Kinderschutzleitlinie.

„Bei der Erarbeitung der Kinderschutzleitlinie war den Pädiatern die Einbeziehung der Zahnmedizin von Anfang an sehr wichtig, da kariöse Zähne ein ganz deutlicher Hinweis auf Vernachlässigung sein können. Denn Karies ist eine chronische Erkrankung, sie deutet darauf hin, dass eine dauerhafte Unterlassung der Fürsorgepflicht vorliegt, sowohl für eine gesunde Ernährung, die Mundhygiene als auch für die (zahn-)ärztliche Vorsorge“, schildert Dr. Schilke, der seit 1991 an der MHH schwerpunktmäßig Kinderzahnheilkunde betreibt.

Grafische Darstellung eines mit Pfeilen im Uhrzeigersinn und Erklärungen am Rande

Im Zusatzdokument „Dentale Vernachlässigung und Verzahnung im Kinderschutz“ der Kinderschutzleitlinie aus dem Jahr 2019 wird dentale Vernachlässigung und die Verzahnung im Kinderschutz dargestellt. Hier ist die Kitteltaschenkarte im Original einsehbar. 

Eine Leitlinie, die viele Professionen anspricht

Dr. Schilke und seine Kollegin PD Dr. Katharina Bücher aus der Universitätszahnklinik in München, haben somit dazu beigetragen, dass es in der Kinderschutzleitlinie ein eigenes Kapitel Zahnmedizin mit Handlungsempfehlungen für Zahnärzte gibt. Die Kinderschutzleitlinie ist eine medizinische Leitlinie mit mehr als 130 Handlungsempfehlungen, die sich aber auch an andere Professionen richtet, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, wie Mitarbeitern von Schulen, Vereinen, Sozialhilfe, Jugendamt und Polizei. „Das Leitlinienbüro hat die ersten zwei Jahre damit verbracht, eine gemeinsame Sprache zu finden. Alle wollten das Kindeswohl, aber haben unterschiedlich miteinander kommuniziert“, sagt Schilke.

Systematisch wurden aus Beispielfällen hypothetische Fallvignetten gebildet, die wiederum gescreent und zu Handlungsempfehlungen anhand der Literatur formuliert wurden. Ein zeitintensives Vorgehen, das ohne ein Koordinierungsbüro mit wissenschaftlichen Mitarbeitern nicht zu stemmen sei. Daher ist eine umfassende Aktualisierung ohne eine gesicherte Finanzierung nicht möglich. Diese steht bislang aus. Eine unbefriedigende Situation nicht nur für die involvierten Fachleute und -gesellschaften, sondern letztlich auch für den Kinderschutz in Deutschland.

Gefährdete Kinder in der Breite erreichen

„Dabei gibt es sicherlich neue Aspekte, die bei der Aktualisierung der Kinderschutzleitlinie Berücksichtigung finden sollten, wie die strukturierte Nachverfolgung durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst“, erklärt Dr. Schilke. Denn anders als bei niedergelassenen Zahnärzten, für die das Nachgehen einer Kindeswohlgefährdung viel Arbeit und mögliche Konflikte mit den Eltern bedeuten, haben die Zahnärzte im öffentlichen Gesundheitswesen (ÖGD) die Bedeutung der Leitlinie für sich entdeckt.

Laut Schilke zeigt sich der Vorteil der aufsuchenden Struktur und flächendeckenden zahnärztlichen Betreuung von Kindern und Jugendlichen durch den ÖGD erstens darin, dass insbesondere Kinder aus Familien in besonderen Lebenslagen und mit einem möglichen Gefährdungspotenzial früh identifiziert und in entsprechende Präventionsprogramme einbezogen werden können. Und zweitens könnte die Kinderschutzleitlinie von den Zahnmedizinern im ÖGD auch effektiv umgesetzt werden, da sie die amtlichen Verfahrenswege kennen und im besten Fall auch bereits Kontakt zum Jugendamt herstellen konnten.

Für die strukturierte Umsetzung solcher Präven­tionsprogramme sind jedoch die Unterstützung durch Amtsleitung und politische Akteure auf kommunaler Ebene sowie entsprechende personelle Ressourcen vonnöten, die mancherorts fehlen. In solchen Fällen könnte eine aktualisierte Kinderschutzleitlinie ein entscheidender Hebel sein.

„Der niedergelassene Zahnarzt sieht die Kinder, bei denen Vernachlässigung vorliegen könnte, oft in einem späten Stadium. Die Ausweitung der zahnärztlichen Früherkennungsuntersuchungen für gesetzlich Versicherte vom 6. bis zum 33. Lebensmonat zeigt kaum Wirkung, es kommen nur wenig mehr Kinder im Vorschulalter in die Zahnarztpraxen als früher. Es ist daher wichtig, die Eltern zu erreichen, die sich bisher nicht um die Zahn­gesundheit ihrer Kinder gekümmert haben oder die nicht wissen, dass und wie man sich um die Zähne kümmern muss. Und die erreicht man am besten über die aufsuchende Gruppenprophylaxe in Kindergarten oder Schule, denn hier sehen die Zahnärzte des ÖGD die Kinder in der Breite“, sagt Kinderzahnarzt Dr. Schilke.

BZÖG positioniert sich für Kinderschutz

Um sich aktiv am Kinderschutz zu beteiligen, hat der Vorstand des Bundesverbands der Zahnärztinnen und Zahnärzte des öffentlichen Gesundheitswesens e. V. (BZÖG) Ende des Jahres 2023 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe Kinderschutz ins Leben gerufen, die in diesem Sommer ein Grundlagenpapier vorgestellt hat [3]. In diesem wird die besondere Bedeutung der kommunalen zahnärztlichen Dienste hervorgehoben, da sie die Kinder in ihren Lebenswelten erreichen und so mögliche Gefährdungen frühzeitig erkennen und Hilfen vermitteln können.

Zudem soll die Implementierung praxisrelevanter Hinweise und Konzepte auch als Handreichung dafür verstanden werden, den relevanten Akteuren auf kommunaler Ebene die richtigen Wege im Zusammenhang mit der konzeptuellen Umsetzung entsprechender Präventionsprogramme und möglicher Kooperationen zu zeigen, heißt es im Grundlagenpapier. Bisher sei es schwierig, einen Schwellenwert für dentale Vernachlässigung (Dental neglect) festzustellen und es sollte daher Ziel sein, auf eine einheitliche Definition und Standardisierung der verschiedenen zahnmedizinischen Parameter für das Vorliegen einer potenziellen Kindeswohlgefährdung hinzuwirken.

Neue PICO-Fragen für die Aktualisierung

Diejenigen Zahnärzte, die an der Aktualisierung der Kinderschutzleitlinie mitarbeiten möchten, bemühen sich um die Zulassung der folgenden PICO-Fragen:

  • Führt eine Implementierung 
des Themas Kindeswohlgefährdung innerhalb des medizinischen und zahnmedizinischen Curriculums oder entsprechende Fortbildungsangebote bei einem Kind im Alter von 0 bis 18 Jahren mit Verdacht auf Kindeswohlgefährdung eher zum Erkennen und Handeln als keine Implementierung in der Lehre oder Fortbildungsangeboten?
  • Kann durch die Behandlung von kariösen Zähnen bei einem Kind im Alter von 0 bis 18 Jahren mit Verdacht auf dentale Vernachlässigung die allgemeine und die mundgesundheitsbezogene Lebensqualität eher verbessert werden als durch keine Behandlung kariöser Zähne?
  • Führen strukturierte, mehrstufige Kontaktaufnahmen mit den Erziehungsberechtigten durch den öffentlichen Zahngesundheitsdienst zur Information der Erziehungsberechtigten von Kindern mit auffälligen Zahnbefunden und dem Verdacht auf Dental Neglect/Kindesvernachlässigung zu einer besseren zahnärztlichen Versorgung der betroffenen Kinder und zu einem besseren Umgang/Verständnis der Erziehungsberechtigten mit der/für die Zahngesundheit ihrer Kinder als keine strukturierten, mehrstufigen Kontaktaufnahmen?

Zu allen drei vorgeschlagenen PICO-Fragen liegen bereits publizierte Studienergebnisse vor. Die genannten PICO-Fragen verfolgen das Ziel der Realisierung einer verbesserten Mundgesundheit durch eine strukturierte Nachverfolgung durch den ÖGD, einer Verbesserung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität durch die Zahnsanierung und einer stärkeren Verankerung des Themas Kindeswohlgefährdung in der zahnmedizinischen Lehre und Fortbildung.

PICO steht dabei als Akronym für:

  • „Patient/Population“ – und sein Problem
  • „Intervention“ – Behandlung
  • „Comparison“ – Alternativmaßnahme oder keine Behandlung
  • „Outcome“ – Behandlungsziel

Kaskadenartiges Vorgehen bei Verdachtsfällen

Um Karies als Zeichen einer Kindeswohlgefährdung identifizieren zu können, gibt die Kinderschutzleitlinie Handlungsempfehlungen, wonach das mehrstufige Vorgehen nach Paragraf 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) zugrunde gelegt ist:

  • Stufe 1: Erörterung des Befunds mit dem Kind oder Jugendlichen sowie den Erziehungsberechtigten und – soweit erforderlich – Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfen oder einer Behand-lung
  • Stufe 2: Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Beratung der Zahnärztin oder des Zahnarztes durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“ unter Weitergabe von pseudonymisierten Personendaten. Diese speziell ausgebildeten Personen finden sich lokal an Jugendämtern oder sind bundesweit über die Medizinische Kinderschutzhotline unter der Rufnummer 0800 19 210 00 zu erreichen.
  • Stufe 3: Ist ein Vorgehen nach Stufe 1 erfolglos, um die Kindeswohlgefährdung abzuwenden, ist der Berufsgeheimnisträger befugt, das Jugendamt zu informieren.

Wurden Personensorgeberechtige über die Art und das Ausmaß der kariösen Erkrankungen ihres Kindes, den Nutzen einer Behandlung, die spezifischen Behandlungsoptionen und den Zugang zu diesen Behandlungsoptionen zur Abwendung von weiterführenden Schäden informiert und enthalten sie ihren Kindern eine indikationsgerechte zahnärztliche Behandlung oder erforderliche Unterstützung bei der Mundhygiene vor, ist dies ein gewichtiger Anhaltspunkt für eine Vernachlässigung.

Hierbei sind insbesondere das Alter und der Entwicklungsstatus der Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. „Das zahnärztliche Behandlungsteam ist aber nicht dafür verantwortlich, eine Diagnose Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung zu stellen. Es sollte jedoch Anhaltspunkte dafür objektivieren und dokumentieren sowie die Bedenken in angemessener und insbesondere in verständlicher Weise mit den entsprechenden Stellen wie dem zuständigem Jugendamtsmitarbeiter teilen“, sagt Schilke.

Handlungsgebot ja, aber in Deutschland keine Meldepflicht

Auch nach der Einführung des Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) im Jahr 2021 besteht bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung in Deutschland lediglich ein Handlungsgebot, jedoch keine Meldepflicht wie beispielsweise in skandinavischen Ländern und England.

Die Pflicht zum Tätigwerden nach Paragraf 4 KKG setzt das Ausschöpfen der eigenen Möglichkeiten voraus, darunter ein Gespräch mit den Betroffenen, das Hinwirken auf Behandlung oder Hilfen, und bietet die Möglichkeit einer Beratung durch Dritte, bevor das Jugendamt informiert wird. Nur wenn eine akute Gefährdung des Kindes vorliegt, soll das Jugendamt unmittelbar informiert werden. So können unnötige Meldungen vermieden werden, während das Vertrauensverhältnis zwischen (Zahn-)Arzt und Familie erhalten bleibt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, wenn eine Behandlung erreicht werden soll.

Keine Verletzung der Schweigepflicht

Als wichtige Neuerung durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wurde eine Rückmeldung durch das Jugendamt an die Berufsgeheimnis-
träger eingeführt. Dabei wird mitgeteilt, ob es die gewichtigen Anhaltspunkte für die Kindeswohlgefährdung bestätigt sieht und ob es zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen tätig geworden ist und noch tätig ist.

Dieses Wissen um den weiteren Fortgang des Verfahrens ist für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sicherlich wichtig. Schilke versichert zudem, dass kein Zahnarzt oder Arzt bei einer Meldung eine Verletzung seiner Schweigepflicht befürchten müsse, wenn ein begründeter Verdacht einer Kindeswohlgefährdung vorliegt, da das Kindeswohl als ein höherwertiges Gut als das Berufsgeheimnis angesehen wird.

Reaktion des Innovationsausschusses

Auf Nachfrage der dzw, warum die Kinderschutzleitlinie bislang keine Förderzusage erhalten habe, teilte die Geschäftsstelle des Innovationsausschusses mit, dass man sich zu eingereichten beziehungsweise abgelehnten Förderanträgen grundsätzlich nicht äußere. Das Verfahren der Antragsbewertung sei in Paragraf 9 der Verfahrensordnung des Innovationsausschusses [4] geregelt.

Stattdessen wurde auf das Projekt MeKidS.best [5] im Ruhrgebiet ver­wiesen, das aktuell durch den Innovationsausschuss gefördert würde. Zudem sei Ende 2020 ein Beschluss des G-BA in Kraft getreten, mit dem Schutzkonzepte für Kinder und Jugendliche in medizinischen Einrichtungen ein verpflichtender Bestandteil eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements seien.

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Dr. Reinhard Schilke

Dr. Reinhard Schilke war nach dem Studium der Zahnmedizin in Münster von 1991 bis 1994 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie der Medizinischen Hochschule Hannover tätig. Im Anschluss an seine Ausbildung zum Fachzahnarzt für Kieferorthopädie ist er seit 1998 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Oberarzt in der Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde der MHH beschäftigt. Er leitet die Arbeitsgruppe Kinderzahnheilkunde der Klinik (Klinikleitung: Prof. Dr. N. Schlüter), ist Mitglied der Arbeitsgruppe Kindesschutz Hannover des Kinderkrankenhauses Auf der Bult und der Medizinischen Hochschule Hannover sowie Mandatsträger der DGKiZ bei der AWMF S3+ Leitlinie Kinderschutz. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die Kinderzahnheilkunde ebenso wie die Zahnerhaltung und die Auswirkungen von seltenen Erkrankungen auf den Mundraum.

 

ZIBS-Geburtstagsfeier zum 25-jährigen Bestehen

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Abgelehnte Begründungen der Beihilfe für Schwellenwertüberschreitung in GOZ Rechnungen lt. Bezirksregierung Köln

Keine beihilferechtlich ausreichenden Begründungen für eventuelle Schwellenwertüberschreitungen z.B. sind:

• Leistungserbringung außerhalb der Sprechzeiten oder an Sonn- und Feiertagen
• multidimensionale diagnostische und therapeutische Schwierigkeiten
• differential-diagnostische Schwierigkeiten bei der Auswertung
• schwierige Präparation
• Anwendung neuerer technischer oder aufwändiger Verfahren oder besonders teuerer   medizinischer Großgeräte
• Arbeiten im Backenzahnbereich
• geringe Mundöffnung
• gekrümmte oder enge Wurzelkanäle
• motorische Unruhe, große Angst
• Wurzelkaries
• Erschwerung durch Vorpräparation
• schwierige Farbgestaltung durch vorhandene Kronen und Brücken
• überdurchschnittlich schwierige Separation
• verlängerte Einsatzzeit
• computergestützte Verfahren
• außerordentlich erschwerte Kieferumformung auf Grund ausgeprägtem Zungenpressen
• sehr erschwerte Kieferumformung von orofacialen Dyskinesien
• deutlich erschwerte Einstellung in den Regelbiss auf Grund asymetrischer Distalbisslage
• extremer Zahnengstand
• Pfeilerdivergenzen
• starke Wurzeleinziehungen und damit einhergehende ungünstige Präparationsgrenze
• überhöhter Schluckmodus und übermäßiger Speichelfluss
• muskuläre Verspannungen
• schwere Okklusionsstörung mit exzessivem Bruxismus
• Totalverlust der Stützzone
• Eingliederung einer Verblendkrone

Aus dieser Veröffentlichung geht auch hervor, dass die Beihilfe – auch wenn die Rechnung korrekt erstellt ist – ggf. nur einen Teil der Rechnung erstattet und dem Beihilfeempfänger den nicht erstatteten Kostenanteil zur Begleichung überlässt.