AG Dresden zur Berechnung DVT, IKD und präendodontischer Aufbaufüllung

Urteil vom 13.10.2023

In einem Verfahren zwischen einem zahnärztlichen Factoring-Unternehmen und einem Patienten hat das Amtsgericht (AG) Dresden die Entscheidungen getroffen, dass der Patient die Zahlung der DVT-Röntgenaufnahme, der gemäß § 6 Abs. 1 GOZ analog berechneten präendodontischen Aufbaufüllung sowie der intrakoronalen Befundaufnahme (IKD) schuldete (Urteil vom 13.10.2023, Az.: 116 C 1333/22).

Zur medizinischen Notwendigkeit der DVT-Röntgenaufnahme im Rahmen der endodontischen Behandlung

Entgegen der Auffassung des Kostenerstatters waren Röntgenaufnahmen im vorliegenden Fall nicht ausreichend. Der Sachverständige hat dazu ausgeführt:

„Als Gutachter, der hier angefragt wurde, kann ich primär nur die Komplexität des Falls bewerten, die hier in allen Parametern als „schwierig“ einzustufen war, was mit folgenden Punkten zu begründen ist:

  • Überweisung zur Weiterbehandlung: anbehandelter Zahn, mit subjektiver Einschätzung der Vorbehandlers, hier eine endodontische Therapie erfolgreich durchzuführen nicht durchführen zu können. Gründe hierfür können sein: fehlende Erfahrung und/oder Fähigkeiten, nicht geeignetes Material/Equipment
  • Radiologische Diagnostik ohne erkennbare Wurzelkanalstrukturen und mit Verdacht auf Wurzelanomalie
  • Erweiterte radiologische Diagnostik mittels DVT (kleinvolumig und hochauflösend) mit Verifizierung der schwierigen Wurzelkanalmorphologie (u.a. Wurzelkanalkrümmung der mesio-bukkalen Wurzel und apikale Aufzweigung des Wurzelkanals in der palatinalen Wurzel) und der ausgeprägten Kalzifizierungen.
  • Zusätzlich bestand eine äußerst nahe Lagebeziehung zum Sinus maxillaris mit bereits weitgehend aufgelöster knöcherner Barriere.
  • Verdacht auf reaktive Schleimhautschwellung in der Kieferhöhle als Antwort auf einen (entzündlichen) Reiz
  • Verdacht auf einen weiteren Wurzelkanal mit separatem Foramen in der mesiobukkalen Wurzel.
  • Vermutlich insuffiziente provisorische Füllung

Aus gutachterlicher Sicht war die Anfertigung einer DVT-Aufnahme indiziert. Diese Indikation ist konform mit den Inhalten der zu dieser Zeit gültigen und der neuen Leitlinie zur DVT.“

Zur intrakoronalen Befundaufnahme (IKD)

Die intrakoronale Diagnostik (IKD) konnte nach GOZ-Nr. 9000 analog abgerechnet werden und war nicht, wie von der Versicherung behauptet, bereits durch die Zuschlagposition GOZ-Nr. 0110 abgegolten.

Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass die IKD aufgrund der komplexen Kanalmorphologie und der bereits erfolgten vorhergehenden Behandlung mit potentiellen iatrogenen Komplikationen ebenfalls indiziert gewesen sei, um die Erhaltungsfähigkeit zu prüfen und einen Behandlungsplan zu entwickeln, oder diesen auf die notwendigen Bedürfnisse abzustimmen. Da diese Diagnostik nicht direkt im Zusammenhang mit den GOZ-Positionen 2195, 2330, 2340, 2360, 2410, 2440, 3020, 3030, 3040, 3045, 3060, 3110, 3120, 3190, 3200, 4090, 4100, 4130, 4133, 9100, 9110, 9120, 9130 und 9170 gestanden habe, wie es bei der GOZ-Nr. 0110 benannt ist, sei es auch hier eine selbstständige Leistung gewesen, die einer Analogposition bedurfte.

Zur präendodontischen Aufbaufüllung

Die präendodontische Aufbaufüllung konnte nach GOZ-Nr. 2090 analog abgerechnet werden und war nicht bereits in den GOZ-Nrn. 2180 und 2197 enthalten.

Der Sachverständige habe erläutert, dass das vermutlich provisorische Füllungsmaterial Anzeichen einer Insuffizienz (Aufhellungslinie basal des Materials) aufgewiesen habe und die Kautelen der Asepsis, die für eine endodontische Behandlung zwingend notwendig sind, nicht garantieren würde. Deshalb sei vor der Therapie ein präendodontischer Aufbau erforderlich gewesen, um eine dauerhafte stabile und bakteriendichte dentinadhäsive Versorgung zu gewährleisten. Die GOZ-Positionen 2180 und 2197 spiegelten diesen Schritt nicht wider, weshalb die Wahl einer Analogposition hier gerechtfertigt sei.

Das Gericht schloss sich vollumfänglich den Ausführungen des Gutachters an und stellte abschließend fest, dass dem von der Krankenversicherung vorgerichtlich eingeholten privaten Sachverständigengutachten nicht gefolgt werden könne, da es sich lediglich um allgemeine Ausführungen handelte, ohne auf das zahnmedizinische Problem des beklagten Patienten konkret einzugehen.

EuGH: Mitgliedsstaaten ist Verbot der Beteiligung reiner Finanzinvestoren erlaubt

Urteil vom 19.12.2024

Ein Mitgliedstaat darf die Beteiligung reiner Finanzinvestoren am Kapital einer Rechtsanwaltsgesellschaft verbieten, das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 19.12.2024 (Az.: C-295/23) entschieden. Eine solche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit und des freien Kapitalverkehrs sei durch das Ziel gerechtfertigt, zu gewährleisten, dass Rechtsanwälte ihren Beruf unabhängig und unter Beachtung ihrer Berufs- und Standespflichten ausüben können, begründet der EuGH die Entscheidung.

 

In dem zugrunde liegenden Fall ging es um die rechtliche Frage, ob eine österreichische nicht zur Rechtsberatung zugelasse Gesellschaft einen Anteil am Gesellschaftskapital einer in Deutschland tätigen Rechtsanwaltsgesellschaft erwerben darf. Die Rechtsanwaltskammer München (RAK München) hatte diesen Erwerb untersagt, da sie ihn als unvereinbar mit dem deutschen Berufsrecht ansah. Diese Entscheidung führte zu einem Rechtsstreit, der dem Bayerischen Anwaltsgerichtshof (BayAGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde.

Zum Hintergrund:
Der Gesetzesentwurf des BMG war bei seiner Vorlage im April 2024 von vielen Seiten kritisiert worden. Im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens hatte die Bundesregierung in Aussicht gestellt, auch die Rahmenbedingungen für MVZ in Investorenhand weiterzuentwickeln. Die Bundesländer hatten bereits detaillierte Vorschläge erarbeitet und die Bundesregierung zu einer Nachjustierung aufgefordert, der Bundesrat hatte einen entsprechenden Beschluss gefasst. In einer Gegenäußerung hat die Bundesregierung daraufhin angekündigt, keinen der Vorschläge des Bundesrates aufzugreifen bzw. die Regelung für investorenbetriebene MVZ zu prüfen. Dabei hatte der Bundesgesundheitsminister diese Regelung eigentlich angekündigt.

Für BZÄK und KZBV ist der Fall übertragbar auf die Gesundheitspolitik:
Damit stützt der EuGH die auch von der Zahnärzteschaft wiederholt erhobene Forderung, den Schutz der Patientinnen und Patienten vor der Einflussnahme durch Finanzinvestoren gesetzlich sicherzustellen“, schreiben die beiden Standesorganisationen.
„Ob Rechtsanwaltskanzlei, Arzt- oder Zahnarztpraxis: Finanzinvestoren haben Freiberuflerpraxen als Renditeobjekte ausgemacht. Dabei steht es außer Frage, dass das erklärte Ziel eines Finanzinvestors – die Gewinnmaximierung – Einfluss auf die Organisation und die Tätigkeit einer Freiberufler-Gesellschaft haben kann“, melden Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV).
Quelle: Bundeszahnärztekammer (BZÄK) – Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Zahnärztekammern e.V.

BGH: Eine ordnungsgemäße Aufklärung vor einem Eingriff kann nur mündlich erfolgen

Urteil vom 05.11.2024

Eine ordnungsgemäße Aufklärung über die Risiken medizinischer Eingriffe darf nicht allein schriftlich erfolgen. Ärzte sind verpflichtet, Patienten mündlich aufzuklären, denn ein vertrauensvolles Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patient soll immer auch die Möglichkeit für Rückfragen ermöglichen. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Urteil vom 05.11.2024 klargestellt (Az.: VI ZR 188/23).

Die Richter verweisen in ihrem Urteil zunächst darauf, dass eine wirksame Einwilligung des Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung nach § 630d Abs. 2 BGB voraussetze. Dabei müssten die in Betracht kommenden Risiken nicht exakt medizinisch beschrieben werden. Es genüge vielmehr, den Patienten „im Großen und Ganzen“ über Chancen und Risiken der Behandlung aufzuklären und ihm dadurch eine allgemeine Vorstellung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren zu vermitteln, ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern.

Ordnungsgemäße Aufklärung kann nur mündlich erfolgen

Zu den Modalitäten der Aufklärung bestimme § 630e Abs. 2 BGB, dass die Aufklärung mündlich zu erfolgen habe und ergänzend auf Unterlagen Bezug genommen werden könne, die der Patient in Textform erhalte. Nach den Gesetzgebungsmaterialien solle dem Patienten die Möglichkeit eröffnet werden, in einem persönlichen Gespräch mit dem Behandelnden gegebenenfalls auch Rückfragen zu stellen, so dass die Aufklärung nicht auf einen lediglich formalen Merkposten innerhalb eines Aufklärungsbogens reduziert werde. Das schließe die ergänzende Verwendung von Merkblättern nicht aus, in denen die notwendigen Informationen zu dem Eingriff einschließlich seiner Risiken schriftlich festgehalten seien.

Aufklärung bedarf grundsätzlich des vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und Patienten

Die mündlich gebotene Vermittlung der Chancen und Risiken der Behandlung „im Großen und Ganzen“ und damit einer allgemeinen Vorstellung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren verlange, dass diese Gefahren auch im Gespräch genannt werden. Lediglich ergänzend, das heißt zur Wiederholung des Gesagten (als Gedächtnisstütze), zur bildlichen Darstellung und zur Verbesserung des Verständnisses des mündlich Erläuterten und zur Vermittlung vertiefender Informationen, die hilfreich, für das Verständnis der Risiken aber nicht unbedingt notwendig seien, könne (müsse aber nicht) auf Informationen in Textform Bezug genommen werden.

Entgegen der Vorstellung des Berufungsgerichts entstehe das Gesamtbild der gebotenen Aufklärung nicht durch eine Zusammenfügung eines mündlichen und schriftlichen Teils, sondern es müsse jedenfalls der für die selbstbestimmte Entscheidung notwendige Inhalt mündlich mitgeteilt werden. Nur so bestehe für den Patienten die ausreichende Gelegenheit für (Rück)fragen im Gespräch und für den Arzt die Möglichkeit, Verständnisprobleme, Fehlvorstellungen, aber auch Ängste zu erkennen und auf sie unmittelbar und individuell zu reagieren. Daran fehle es, wenn – was zu unterstellen sei – das Risiko der Nervenschädigung lediglich im Aufklärungsbogen, aber nicht im Gespräch genannt werde.

Von Angelika Enderle, erstellt am 19.02.2025, zuletzt aktualisiert am 19.02.2025

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
© Asgard-Verlag Dr. Werner Hippe GmbH, Siegburg.

Juradent-ID: 1912

LSG München: Anspruch auf Kostenübernahme für Aligner/Invisalign-Methode wegen schwerster Behinderung Urteil vom 25.06.2024

Das Landessozialgericht (LSG) Bayern hat mit Urteil vom 25.06.2024 (Az.: L 5 KR 364/22) den Anspruch eines gesetzlich versicherten Patienten auf Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner/Invisalign-Methode im Einzelfall bejaht, wenn konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO- Gerät) wegen einer schwersten Behinderung und einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung sich als ungeeignet erweisen und den besonderen behinderungsbedingten Belangen des Versicherten widersprechen.

Sachverhalt:
Die 2009 geborene Klägerin leidet am Phelan-McDermid-Syndrom, einer genetisch bedingten globalen Entwicklungsstörung, einhergehend mit schwerer geistiger Behinderung, fehlender Sprachentwicklung und neuromuskulären Symptomen. Bei ihr besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und RF. Sie hat den Pflegegrad 5 und leidet unter einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung (KIG-Einstufung A5).

Unter Vorlage eines kieferorthopädischen Behandlungsplanes beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, die Kostenübernahme der kieferorthopädischen Behandlung mittels Aligner-Therapie mit voraussichtlichen Gesamtkosten i.H.v. 6.591,14 Euro. Dabei verwies der Kieferorthopäde auf die besondere gesundheitliche Situation der Patientin, dass die Behandlung aus medizinischen und nicht aus ästhetischen Gründen durchgeführt werden solle sowie darauf, dass Behandlungsalternativen zur kausalen Behebung des Problems nicht vorhanden seien.

Der daraufhin von der Krankenkasse beauftragte Medizinische Dienst (MDK Bayern) kam in seiner zahnmedizinischen Begutachtung zu dem Ergebnis, dass die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie nicht zu befürworten sei. Die Korrektur der vorliegenden Bisslage mit Alignern sei mechanisch nicht möglich und die im Behandlungsplan angegebenen Ziele könnten damit mechanisch nicht erreicht werden. Die Bisslage könne grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung sei auch mit konventionellen Mitteln möglich. Die KIG-Einstufung A5 wurde bestätigt und zudem wurden die KIG-Einstufungen S4, E5 und D5 festgestellt.

Daraufhin lehnte die Krankenkasse den Antrag mit dem Argument ab, die Invisalign-Technik zähle zu den außervertraglichen Leistungen und sei im Ersatzkassenvertrag Zahnärzte (EKV-Z) nicht geregelt, weil im Rahmen einer vertragszahnärztlichen kieferorthopädischen Behandlung eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung mit herausnehmbaren und/oder festsitzenden Behandlungsgeräten, auf die der Gutachter in seiner Stellungnahme hingewiesen habe, sichergestellt sei.

Der behandelnde Kieferorthopäde reichte darauf eine ausführliche ärztliche Stellungnahme ein: Die Behauptungen der Gutachterin, eine Aligner-Therapie würde „deutlich länger andauern“ und „die therapeutischen Ziele können damit mechanisch nicht erreicht werden“, seien schlicht nicht haltbar. Dafür gebe es zahllose Gegenbeispiele und Urteile. Eine Aligner- Therapie sei für die Klägerin und ihre Mutter das einzig praktikable Therapiemittel. Die Patientin akzeptiere kaum Fremdkörper im Mund. Eine konventionelle aktive Platte oder ein funktionskieferorthopädisches (FKO-)Gerät würde nicht getragen werden. Eine Multiband-Apparatur sähe er äußerst kritisch bzw. unter keinen Umständen als praktikabel an. Erstens weil diese Apparatur äußerst pflegeintensiv sei und bei der Patientin bereits die normalen Mundhygienemaßnahmen von der Mutter äußerst schwierig umgesetzt werden könnten. Zweitens sei die festsitzende Apparatur relativ reparatur- und SOS-anfällig (Druckstellen, Verrutschen und Stiche der Bogen, Bracketverlust, …). Drittens müsste alle 4-8 Wochen der Bogen gewechselt werden; es sei jedoch keine Compliance ohne Narkose möglich, was aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls nicht praktikabel und ethisch vertretbar wäre. Die Klägerin müsse für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in eine Intubationsnarkose (ITN) versetzt werden. Die Aligner hingegen könne die Mutter der Klägerin zuhause einsetzen und wechseln. Sie lägen wie eine „zweite Haut“ auf den Zähnen an und reduzierten das Fremdkörpergefühl auf ein Minimum. Die Therapie sei für die Verbesserung der Kau- sowie der Myofunktion nötig. Das Gutachten des MDK sei eine völlige Ausblendung der tatsächlichen schwierigen Umstände des schweren Falles und der damit einhergehenden Ausnahmesituation.

Trotz alledem hielt die Krankenkasse an ihrer Auffassung fest: Bei der Aligner- Therapie handele es sich um eine neue Behandlungsmethode. Da keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) vorliege, dürfe sie keine Kosten für die kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Therapie übernehmen. Der MDK habe darüber hinaus auf die Methoden der konventionellen kieferorthopädischen Behandlung verwiesen, die bewilligt worden sei.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das LSG bestätigte die Entscheidung des Sozialgerichts München, wonach die Klägerin in ihrem besonderen Einzelfall Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner-Methode zulasten der GKV habe. Dass es sich bei der Aligner-Methode um eine „neue“, bisher nicht empfohlene Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V handele, stehe dem Anspruch der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 25 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 03.05.2008 (Behindertenrechtskonvention, UN-BRK), in Deutschland in Kraft seit 01.01.2019, nicht entgegen.

Anspruch aus § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V

Das Gericht stellt zunächst den Anspruch der Patientin für die kieferorthopädische Behandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V und § 29 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4, § 92 Abs. 1 SGB V fest und führt zu § 2a SGBV aus:

Zutreffend habe das SG auch § 2a SGBV, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist, als weitere Anspruchsgrundlage (i.V.m. den o. g. leistungsrechtlichen Vorschriften) für das Begehren der Klägerin herangezogen. Zwar werde § 2a SGB V (nur) als „Auslegungshilfe“ zur Konkretisierung des verfassungsrechtlich verankerten Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Leistungsrecht der GKV angesehen, die einen gesetzlichen Leistungsausschluss nicht zu überwinden vermag. Den „besonderen Belangen“ Rechnung zu tragen, bedeute nicht, jegliche Leistung zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen. § 2a SGB V verpflichtet jedoch, auf die Belange der behinderten oder chronisch kranken Menschen besonders zu achten, d. h. auch im Sinne einer individuellen Medizin dem jeweils individuellen Gesundheitsproblem volle Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Leistung der GKV sei danach weder ausreichend noch zweckmäßig oder bedarfsgerecht, wenn sie nach Art, Inhalt, Umfang und den Umständen der Leistungserbringung nicht den besonderen Belangen des Leistungsberechtigten entspreche, z. B. wenn sie bestehende Unvereinbarkeiten verschiedener Arzneimittel oder sonstiger Therapiearten nicht beachte.

So liege der Fall hier: Nach dem durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung letztlich nicht mehr bestrittenen Vortrag des Bevollmächtigten der Klägerin und vor allem der zahnärztlich- kieferorthopädischen Stellungnahme sei der Senat davon überzeugt, dass im besonderen Fall der Klägerin die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel sei. Konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO-Gerät) seien für die Klägerin wegen ihrer schweren Erkrankung/Behinderung ungeeignet und würden ihren besonderen behinderungsbedingten Belangen geradezu widersprechen. Vor allem die vom MDK als Behandlungsalternative genannten Zahnextraktionen widersprächen dem Anspruch der Klägerin auf kieferorthopädische Behandlung und seien zudem ethisch nicht vertretbar vor dem Hintergrund einer möglichen Behandlung mit der Aligner-Methode.
Der Senat sei daher der Auffassung, dass im speziellen Fall der Klägerin viel dafür spreche, dass sich die „Auslegungshilfe“ des § 2a SGB V vorliegend ausnahmsweise zu einem Anspruch auf die begehrte Aligner-Versorgung verdichtet.

Kein Ausschluss nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V

Bei der Aligner/Invisalign-Methode handele es sich um eine „neue“ Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, für die es (bisher) keine Empfehlung des G-BA gebe. Das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Regelungen über die Gewährung von Zugang zu Gesundheitsdiensten nach Art. 25 UN-BRK überwinden jedoch im speziellen Fall der Klägerin diesen einfachgesetzlichen Leitungsausschluss.

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dürfe niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen sei nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorlägen. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei auch die UN-BRK bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen, nach der Vertragsstaaten nach Art. 25 BRK insbesondere verpflichtet seien, Menschen mit Behinderung einen in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Zugang zu der für sie notwendigen Gesundheitsversorgung zu verschaffen.

Mit den besonderen behinderungsbedingten zahntechnisch-kieferorthopädischen Belangen und Erfordernissen setze sich die beklagte Krankenkasse in den streitgegenständlichen Verwaltungsentscheidungen indes nicht einmal ansatzweise auseinander. Sie verkenne demgemäß der zahnärztlichen Stellungnahme des Kieferorthopäden, dass die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel und eine Behandlung mit konventionellen Methoden (wie Multiband- /Multibracket-Apparatur oder FKO-Gerät) bei der Klägerin ungeeignet sei. Demgegenüber beschränke sich die (nur) nach Aktenlage erstellte Stellungnahme des MDK Bayern lediglich auf die formelhafte Feststellung, dass „Die Bisslage grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden [kann] oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung ist auch mit konventionellen Mitteln möglich.“

Als weiterer wesentlicher und besonderer Umstand komme hinzu, dass die Klägerin bei einer zahnmedizinischen Behandlung nicht (aktiv) mitwirken könne und für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in Narkose versetzt werden müsse, was mit zusätzlichen, u.U. nicht unerheblichen, gesundheitlichen Risiken verbunden sei.

Nach Auffassung des Senats befindet sich daher die Klägerin in einer Situation ausgeprägter Schutzbedürftigkeit, in der mit der Vorenthaltung der begehrten Leistung und dem Verweis auf herkömmliche Behandlungsmethoden eine Gefahr für ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf Leben nicht ausgeschlossen werden kann und die es rechtfertigt, dass sich der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nach den oben genannten Grundsätzen vorliegend zu einer konkreten Schutzpflicht verdichtet. Jedes andere Ergebnis ist vor diesem Hintergrund weder medizinisch-ethisch noch juristisch vertretbar.

Von Angelika Enderle, erstellt am 27.11.2024, zuletzt aktualisiert am 27.11.2024

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
© Asgard-Verlag Dr. Werner Hippe GmbH, Siegburg.

Juradent-ID: 4775

Was machen bei Zweifeln an der Berufsunfähigkeit

Arbeitsgerichte zu Zweifeln am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilte am 13.12.2023 (Az.: 5 AZR 137/23), dass der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen dann erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorlegt, die exakt die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und der Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nahtlos eine neue Tätigkeit aufnimmt. Das BAG führte dazu aus, dass in einem solchen Fall der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trage. Da das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hatte, war die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

Damit führte das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine Rechtsprechungslinie vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21) fort, das damals entschied: Der Umstand, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau den Zeitraum der Kündigungsfrist umfasste, begründe Zweifel am tatsächlichen Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Gelinge das dem Arbeitgeber, müsse der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig war. Das BAG nannte dafür konkret die Möglichkeit, den ausstellenden Arzt von der Schweigepflicht zu entbindet und als Zeuge zu benennt. Dem war die Klägerin im Prozess nicht hinreichend konkret nachgekommen.

Das Landesarbeitsgericht (LArbG) Berlin-Brandenburg sah in seinem Urteil vom 05.07.2024 (Az.: 12 Sa 1266/23) den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gleich durch mehre Indizien als erschüttert an. Als Indiz dafür sei einerseits die passgenau zur Kündigungsfrist erfolgte Krankschreibung zu werten. Zu berücksichtigen sei auch, dass die Höchstdauer der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie überschritten wurde und dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeit für die kommenden 20 Tage attestiert wurde, was gegen die Maximalvorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie verstoße. Dass der Kläger darüber hinaus als Schiedsrichter an einem Handballspiel teilnahm, stütze diese Zweifel.

Mit Urteil vom 06.07.2024 (Az.: 15 SLa 127/24) hat das Landesarbeitsgericht (LArbG) Niedersachsen den Beweiswert einer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert angesehen, weil die Arbeitnehmerin während der attestierten Arbeitsunfähigkeit an einem Trainer–Lizenz–Lehrgang bei der Landesturnschule teilgenommen hatte, nachdem ihr Urlaubsantrag für denselben Zeitraum abgelehnt worden war. Besonders das zeitliche Zusammentreffen zwischen der abgelehnten Urlaubsanfrage, der Krankschreibung sowie die Teilnahme am Lehrgang führten zu erheblichen Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Krankschreibung.
Werde eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit angenommen, obliege dem Arbeitnehmer eine sekundäre Beweislast, so das LAG. Dies habe zur Folge, dass einfaches Bestreiten und der bloße Verweis auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht genügen. Den Arbeitnehmer treffe dann eine weitergehende Substantiierungspflicht und die behandelnden Ärzte müssten von ihrer Schweigepflicht entbunden werden. Da die Klägerin dieser sekundären Beweislast nicht nachgekommen war, bestätigte das Gericht die erstinstanzliche festgestellte Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung.

Fazit: Um die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, müssen Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung (AU-Bescheinigung) vorlegen, aus der das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und ihre voraussichtliche Dauer hervorgeht (§ 5 Abs. 1 Satz 2 und 3 EFZG). Diese ist das gesetzlich vorgesehene Beweismittel und es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer auch tatsächlich erkrankt sind. Im Streitfalle bleibt es weiterhin Aufgabe des Arbeitgebers, bei begründeten Zweifeln am Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit substanziiert die zur Erschütterung führenden Umstände aufzuzeigen.

Neues Urteil zum Urlaubsanspruch für schwangere Mitarbeiterinnen

BAG: Urlaubsanspruch für Schwangere bleibt trotz Beschäftigungsverbot erhalten

Urteil vom 20.08.2024

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) Erfurt hat mit Urteil vom 20.08.2024 (Az.: 9 AZR 226/23) zugunsten einer Zahnärztin entschieden, dass der angesammelte Urlaubsanspruch auch nach mehreren aufeinanderfolgenden Schwangerschaften mit nahtlos ineinandergreifenden Beschäftigungsverboten erhalten bleibt.

Geklagt hatte eine angestellte Zahnärztin, die im Juli 2018 und im September 2019 Kinder bekommen hatte. Am 1. Dezember 2017 sprach ihr Arbeitgeber ein erstes Beschäftigungsverbot aus und für das zweite Kind ein weiteres. Aufgrund von Beschäftigungsverboten, Mutterschutz und Stillzeiten konnte sie bis zum Ende ihres Arbeitsverhältnisses Ende März 2020 zwei Jahre und vier Monate nicht arbeiten.

Der Arbeitgeber hatte geltend gemacht, während der Beschäftigungsverbote seien keine Urlaubsansprüche entstanden. Für die Zeiten nahtlos ineinandergreifender Beschäftigungsverbote bestünde keine Arbeitspflicht, die ein Erholungsbedürfnis habe begründen können. Jedenfalls seien etwaige Urlaubsansprüche gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Monats März des jeweiligen Folgejahres erloschen. Dem stehe die Regelung in § 24 Satz 2 MuSchG nicht entgegen. Danach verfalle nur Urlaub nicht, den eine Frau „vor“ Beginn eines Beschäftigungsverbots nicht oder nicht vollständig erhalten habe.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das BAG entschied, dass die Urlaubsansprüche entstanden sind, obwohl die Klägerin ihre Tätigkeit als Zahnärztin in der Zeit vom 1. Dezember 2017 bis zur rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. März 2020 nicht ausüben konnte und sind nicht gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen.

Nach § 24 Satz 2 MuSchG könne eine Frau Urlaub, den sie vor Beginn eines Beschäftigungsverbots nicht oder nicht vollständig erhalten habe, nach dem Ende des Beschäftigungsverbots im laufenden oder im nächsten Urlaubsjahr beanspruchen. Die Vorschrift regle eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG, dass der Erholungsurlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden müsse.

Die Vorschrift des § 24 Satz 2 MuSchG knüpfe ihre Rechtsfolge fortlaufend an das Ende eines jeden einzelnen Beschäftigungsverbots. Folgten mehrere Beschäftigungsverbote nahtlos aufeinander, könne die Arbeitnehmerin ihren – ggf. über mehrere Beschäftigungsverbote angesammelten – Urlaub nicht vor Beginn des letzten Beschäftigungsverbots „erhalten“. Die Arbeitnehmerin könne in diesem Fall den gesamten bis dahin aufgelaufenen Urlaub gemäß § 24 Satz 2 MuSchG nach Ende des letzten Beschäftigungsverbots im laufenden oder im nächsten Urlaubsjahr beanspruchen. Dies folge bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der darauf abstelle, dass die Frau ihren Urlaub vor Beginn „eines“ Beschäftigungsverbots nicht oder nicht vollständig erhalten habe. Die Norm differenziere weder nach der Art des Beschäftigungsverbots noch danach, aus welchen Gründen der Urlaub zuvor nicht genommen werden konnte. Maßgeblich sei allein, dass der Urlaub vor Beginn des (jeweils neuen) Beschäftigungsverbots nicht genommen werden konnte.

Systematisch würden durch die Auslegung Wertungswidersprüche vermieden, weil bei sich nahtlos aneinanderreihenden Beschäftigungsverboten die gleichen Rechtsfolgen einträten wie bei aufeinanderfolgenden Mutterschutzfristen und Elternzeiten. Die Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Erholungsurlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss, gelte in beiden Fällen gleichermaßen.

Diese Auslegung des § 24 Satz 2 MuSchG entspreche den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union müsse gewährleistet sein, dass Arbeitnehmerinnen, die ihre Aufgaben wegen Mutterschaftsurlaubs nicht erfüllen können, den bezahlten Erholungsurlaub zu einer anderen Zeit als der ihres Mutterschaftsurlaubs in Anspruch nehmen können.

Wachstumschancengesetz und die neue E-Rechnung

Tut uns leid, aber dieser Inhalt ist nur für Mitglieder der ZIBS sichtbar.
Wenn Sie Mitglied der ZIBS sind loggen Sie sich bitte ein.

BerG Heilberufe Münster: Für fehlende Notdienstvertretung ist Ordnungsgeld fällig

Urteil vom 05.06.2024

Das Berufsgericht (BerG) für Heilberufe beim Verwaltungsgericht Münster entschied mit Urteil vom 05.06.2024 (Az.: 18 K 2105/23.T), dass die Pflicht zur Teilnahme am zahnärztlichen Notfalldienst auch die Pflicht des Zahnarztes umfasst, im Fall der Verhinderung selbst für eine Vertretung zu sorgen und dies der für ihn zuständigen Stelle mitzuteilen. Eine bloße Benachrichtigung der zuständigen Stelle über die Verhinderung zur Wahrnehmung des Notfalldienstes reicht nicht aus.

Sachverhalt der Entscheidung des Berufsgerichts:

Ein Zahnarzt war am Sonntag, dem 02.07.2023 von 8:00 Uhr bis 8:00 Uhr des Folgetages zum zahnärztlichen Notfalldienst eingeteilt. Am Samstagabend vor seinem Notfalldienst ging um 19:13 Uhr beim Notfalldienstbeauftragten und der KZVWL per E-Mail eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein, wonach der Zahnarzt wegen Krankheit dienstunfähig sei. Weitere Bemühungen um eine Vertretung für den Notfalldienst hatte der Zahnarzt unterlassen.

Die KZVWL erteilte dem Zahnarzt aufgrund eines entsprechenden Beschlusses ihres Kammervorstandes eine Rüge, verbunden mit einem Ordnungsgeld in Höhe von 1.000 Euro. Er habe es schuldhaft unterlassen, eine Vertretung für seinen Notfalldienst zu organisieren. Durch seine langjährige zahnärztliche Tätigkeit sei es ihm bewusst gewesen oder hätte es ihm zumindest bewusst sein müssen, dass er im Fall der Verhinderung einen Vertreter suchen müsse. Diese Pflicht entfalle nur, wenn krankheitsbedingte oder sonstige die Dienstunfähigkeit begründenden Umstände so gravierend seien, dass auch die Vertretungssuche unmöglich sei.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach Meinung des Gerichts war die Rüge mit Ordnungsgeld rechtlich nicht zu beanstanden, da der Zahnarzt die ihm obliegenden Berufspflichten schuldhaft verletzt hat. Jedenfalls nach der Notfalldienstordnung Westfalen-Lippe umfasst die Pflicht zur Teilnahme am Notfall auch die Pflicht des Zahnarztes, im Fall der Verhinderung selbst für eine Vertretung zu sorgen und dies der für ihn zuständigen Bezirksstelle bzw. dem von der Bezirksstelle Beauftragten für den zahnärztlichen Notfalldienst mitzuteilen.

Das Gericht stellt dazu fest, der Antragsteller habe selbst eingeräumt, sich wegen der krankheitsbedingten Verhinderung an der Wahrnehmung des zahnärztlichen Notfalldienstes nicht um eine Vertretung gekümmert zu haben, indem er angab, ihm sei es „aufgrund der akuten Erkrankung nicht möglich gewesen, den Dienst durchzuführen oder eine Vertretung zu organisieren“. Er sei aufgrund seiner „Erkrankung mit hohem Fieber und Apathie nicht in der Lage“ gewesen, selbst E-Mails zu versenden oder „Kollegen abzutelefonieren, ob diese den Notfalldienst übernehmen könnten“.

Die oben genannte Pflicht, im Fall der Verhinderung selbst für eine Vertretung zu sorgen, habe der Antragsteller auch nicht dadurch erfüllt, dass seine Ehefrau die ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per E-Mail dem zuständigen Notfalldienstbeauftragten und der KZVWL übermittelt habe. Zur Erfüllung der Berufspflicht nach § 3 Abs. 5 Satz 2 NFDO reiche eine bloße Benachrichtigung des Notfalldienstbeauftragten über die Verhinderung zur Wahrnehmung des Notfalldienstes nicht aus. Vielmehr habe der betreffende Zahnarzt nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift „selbst für eine Vertretung zu sorgen“.

Krankheit reicht als Entschuldigung nicht aus

Der Antragsteller könne sich auch nicht mit dem Hinweis darauf entschuldigen, er habe am Morgen des 30.06.2023 sehr hohes Fieber gehabt und sei kaum ansprechbar gewesen. Die Kammer weise zu Recht darauf hin, dass der Antragsteller am 30.06.2023 oder am 01.07.2023 noch rechtzeitig eine Vertretung für seinen Notfalldienst hätte finden können, wobei auch Praxispersonal oder Angehörige herangezogen werden könnten. Gerade aufgrund seiner – von ihm auch selbst hervorgehobenen – langjährigen Tätigkeit als Zahnarzt hätte dem Antragsteller seine Berufspflicht bewusst sein müssen. Auch wenn der Antragsteller zu den in Rede stehenden Zeitpunkten aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sein sollte, sich persönlich um einen zu seiner Vertretung bereiten Zahnarzt zu bemühen, hätte er zumindest – ebenso wie bei der Beschaffung und beim Versenden der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – mithilfe Dritter den Versuch unternehmen müssen, seine Vertretung zu organisieren. Hierfür hätten nach den Angaben der Antragsgegnerin verschiedene telefonische Möglichkeiten und Angebote im Internet zur Verfügung gestanden.

LAG Köln: Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung im Kleinbetrieb Urteil vom 23.01.2024

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln hat mit Urteil vom 23.01.2024 (Az.: 4 Sa 389/23) entschieden, dass die Kündigung einer Zahnmedizinischen Fachangestellten nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstieß, wonach ein Arbeitnehmer nicht benachteiligt werden darf, weil er in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Entscheidend war hierbei, dass die Kündigung der Klägerin nicht hauptsächlich wegen der krankheitsbedingten Abwesenheit, sondern aufgrund andauernder Teamkonflikte ausgesprochen wurde. Wenn ein Arbeitgeber im Kleinbetrieb eine Kündigung auf Unstimmigkeiten und Probleme im zwischenmenschlichen Umgang im Betrieb stützt, ist dies nicht zu beanstanden.

Sachverhalt:

In dem zugrunde liegenden Fall hatte eine Arbeitnehmerin geklagt, die in einer Zahnarztpraxis mit weniger als zehn Arbeitnehmer (Kleinbetrieb) beschäftigt war. Zwischen der Klägerin und einer Kollegin gab es Konflikte, wobei die genauen Ursachen hierfür sind zwischen den Parteien streitig sind.

In der Zeit vom 16.05.2022 bis zum 27.05.2022 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Hierzu reichte sie eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten ein. Der letzte Tag der attestierten Arbeitsunfähigkeit fiel auf einen Freitag. An dem folgenden Montag meldete sich die Klägerin erneut krank und übermittelte hierfür per WhatsApp ein Foto einer weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Mit Schreiben vom selben Tag kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich.

Die beklagte Arbeitgeberin hatte dazu vorgetragen, die Krankheit der Klägerin sei nicht ursächlich für die Kündigung gewesen, sondern ausgesprochen worden, weil es bereits seit 2020 anhaltende Konflikte im Team der Praxis gegeben habe.

Das Urteil:

Das Landesarbeitsgericht weist zunächst darauf hin, dass der klagende Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 612a BGB trägt und damit auch für den Kausalzusammenhang zwischen benachteiligender Maßnahme und zulässiger Rechtsausübung. Er habe einen Sachverhalt vorzutragen, der auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Maßnahme des Arbeitgebers und einer vorangegangenen zulässigen Ausübung von Rechten hindeutet. Der Arbeitgeber muss sich nach § 138 Abs. 2 ZPO im Einzelnen zu diesem Vortrag erklären. Sind entscheidungserhebliche Behauptungen des Arbeitnehmers streitig, sind grundsätzlich die von ihm angebotenen Beweise zu erheben.

Da die Klägerin nicht ausreichend darlegen konnte, dass die Kündigung vornehmlich deswegen ausgesprochen wurde, weil sie trotz Arbeitsunfähigkeit nicht zur Arbeit erschienen ist, sah das Gericht in der Kündigung keinen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB. In dem Telefonat am 30.05.2022 mit der Arbeitgeberin sei nicht nur die krankheitsbedingte Abwesenheit der Klägerin Thema, sondern auch die Konflikte am Arbeitsplatz mit zumindest einer weiteren Mitarbeiterin sowie von der Klägerin monierte fehlerhafte Abrechnungen, was die Klägerin auf Nachfrage der Berufungskammer eingeräumt hat.

Damit sei ein Rückschluss darauf, dass die Beklagte die Kündigung „vornehmlich“ aufgrund des krankheitsbedingten Fernbleibens ausgesprochen hätte, aber nicht möglich.

Insoweit konnten die Richter einen direkten Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Ausübung eines Rechts durch die Klägerin aber nicht feststellen. Es sei grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Arbeitgeber im Kleinbetrieb eine Kündigung auf Unstimmigkeiten und Probleme im zwischenmenschlichen Umgang im Betrieb stütze.

Hinweis: Bereits das Arbeitsgericht Köln hatte darauf hingewiesen, dass aufgrund der geringen Anzahl von Beschäftigten in einer Arztpraxis und der Tatsache, dass man sich dort auch nicht aus dem Weg gehen könne, es rechtfertige – anders als im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes – Kündigungen auch zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Teamstruktur auszusprechen.

Anwendung des Medikaments Toxavit nur in Ausnahmefällen

OLG Jena: Anwendung des Medikaments Toxavit nur in Ausnahmefällen

Urteil vom 23.01.2024

Trotz bestehender Zulassung wird die Applikation aldehydhaltiger Devitalisierungsmittels (z.B. Toxavit®) unter gesundheitlichen Gesichtspunkten für Patienten nicht mehr empfohlen. So wird laut Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Zahn- und Kieferheilkunde (DGZMK) die Anwendung von aldehyd- oder formokresolhaltigen Präparaten zur Pulpotomie wegen mutagener und kanzerogener Eigenschaften deutlich in Frage gestellt (DGZMK, Stellungnahme: Endodontie im Milchgebiss, Stand Juni 2002).
Auch aus juristischer Sicht erscheint die die Anwendung für den Zahnarzt kritisch. So führt das Oberlandesgericht (OLG) Hamm in seiner Entscheidung vom 24.10.2006 (Az.: 26 U 171/05) aus, dass die Verwendung des Medikamentes Toxavit zur Abtötung des Pulpengewebes einen groben Behandlungsfehler darstellt.
Mit Urteil vom 23.01.2024 (Az.: 7 U 1170/22) hält das Oberlandesgericht (OLG) Jena die Anwendung des Medikaments Toxavit als behandlungsfehlerhaft. Sachverständig beraten habe das Erstgericht festgestellt, dass die Mortaltechnik, d. h. die Abtötung des noch schmerzreaktiven Nervengewebes zum Zweck der Schmerzbeseitigung unter Verwendung des Medikaments Toxavit, nicht mehr dem gegenwärtigen zahnmedizinischen Kenntnisstand entspreche.
Die Anwendung von Toxavit könne in bestimmten Ausnahmefällen indiziert sein; sie erfordere eine Risikoabwägung und es bedürfe dann einer – dokumentationspflichtigen – entsprechenden Begründung durch den Zahnarzt. Aus der Behandlungsdokumentation des Beklagten ergeben sich diese Voraussetzungen indes nicht.
Kein grober Behandlungsfehler
Allerdings konnte der Patient das Vorliegen eines Behandlungsfehlers nicht nachweisen. Das Landgericht sei, den plausiblen Ausführungen des Sachverständigen folgend, in nicht zu beanstandender Würdigung des Beweisergebnisses zu der Überzeugung gelangt, dass die vom Kläger erlittene Entzündung des Kieferknochens nicht auf die Medikation zurückzuführen sei. Somit stelle die Anwendung des Medikaments Toxavit keinen groben Behandlungsfehler dar, der zur Umkehr der Beweislast führe.
Von Expertenmeinung kann abgewichen werden
Zudem gelte zu berücksichtigen, dass das Medikament Toxavit nach wie vor im Handel erhältlich und in der Bundesrepublik Deutschland auch als Arzneimittel zugelassen sei. Zwar werde in der zahnmedizinischen Fachliteratur von der Anwendung von Mortaltechniken abgeraten und die Anwendung von Devitalissationsmedikamenten wie Toxavit kritisch gesehen, da ihnen ein ungünstiges Nutzen-Risiko- Verhältnis zugeschrieben werde. Bei dieser zahnmedizinischen Fachliteratur handle es sich aber bestenfalls um eine S1-Leitlinie, das heißt, um eine durch ärztliche Fachgremien gesetzte Handlungsempfehlung, die aber nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichzusetzen sei und damit um eine Expertenmeinung, von der abgewichen werden könne.