LSG München: Anspruch auf Kostenübernahme für Aligner/Invisalign-Methode wegen schwerster Behinderung Urteil vom 25.06.2024

Das Landessozialgericht (LSG) Bayern hat mit Urteil vom 25.06.2024 (Az.: L 5 KR 364/22) den Anspruch eines gesetzlich versicherten Patienten auf Kostenübernahme für eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner/Invisalign-Methode im Einzelfall bejaht, wenn konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO- Gerät) wegen einer schwersten Behinderung und einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung sich als ungeeignet erweisen und den besonderen behinderungsbedingten Belangen des Versicherten widersprechen.

Sachverhalt:
Die 2009 geborene Klägerin leidet am Phelan-McDermid-Syndrom, einer genetisch bedingten globalen Entwicklungsstörung, einhergehend mit schwerer geistiger Behinderung, fehlender Sprachentwicklung und neuromuskulären Symptomen. Bei ihr besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und RF. Sie hat den Pflegegrad 5 und leidet unter einer schweren Kiefer- und Zahnfehlstellung (KIG-Einstufung A5).

Unter Vorlage eines kieferorthopädischen Behandlungsplanes beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, die Kostenübernahme der kieferorthopädischen Behandlung mittels Aligner-Therapie mit voraussichtlichen Gesamtkosten i.H.v. 6.591,14 Euro. Dabei verwies der Kieferorthopäde auf die besondere gesundheitliche Situation der Patientin, dass die Behandlung aus medizinischen und nicht aus ästhetischen Gründen durchgeführt werden solle sowie darauf, dass Behandlungsalternativen zur kausalen Behebung des Problems nicht vorhanden seien.

Der daraufhin von der Krankenkasse beauftragte Medizinische Dienst (MDK Bayern) kam in seiner zahnmedizinischen Begutachtung zu dem Ergebnis, dass die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin mittels Aligner-Therapie nicht zu befürworten sei. Die Korrektur der vorliegenden Bisslage mit Alignern sei mechanisch nicht möglich und die im Behandlungsplan angegebenen Ziele könnten damit mechanisch nicht erreicht werden. Die Bisslage könne grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung sei auch mit konventionellen Mitteln möglich. Die KIG-Einstufung A5 wurde bestätigt und zudem wurden die KIG-Einstufungen S4, E5 und D5 festgestellt.

Daraufhin lehnte die Krankenkasse den Antrag mit dem Argument ab, die Invisalign-Technik zähle zu den außervertraglichen Leistungen und sei im Ersatzkassenvertrag Zahnärzte (EKV-Z) nicht geregelt, weil im Rahmen einer vertragszahnärztlichen kieferorthopädischen Behandlung eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung mit herausnehmbaren und/oder festsitzenden Behandlungsgeräten, auf die der Gutachter in seiner Stellungnahme hingewiesen habe, sichergestellt sei.

Der behandelnde Kieferorthopäde reichte darauf eine ausführliche ärztliche Stellungnahme ein: Die Behauptungen der Gutachterin, eine Aligner-Therapie würde „deutlich länger andauern“ und „die therapeutischen Ziele können damit mechanisch nicht erreicht werden“, seien schlicht nicht haltbar. Dafür gebe es zahllose Gegenbeispiele und Urteile. Eine Aligner- Therapie sei für die Klägerin und ihre Mutter das einzig praktikable Therapiemittel. Die Patientin akzeptiere kaum Fremdkörper im Mund. Eine konventionelle aktive Platte oder ein funktionskieferorthopädisches (FKO-)Gerät würde nicht getragen werden. Eine Multiband-Apparatur sähe er äußerst kritisch bzw. unter keinen Umständen als praktikabel an. Erstens weil diese Apparatur äußerst pflegeintensiv sei und bei der Patientin bereits die normalen Mundhygienemaßnahmen von der Mutter äußerst schwierig umgesetzt werden könnten. Zweitens sei die festsitzende Apparatur relativ reparatur- und SOS-anfällig (Druckstellen, Verrutschen und Stiche der Bogen, Bracketverlust, …). Drittens müsste alle 4-8 Wochen der Bogen gewechselt werden; es sei jedoch keine Compliance ohne Narkose möglich, was aus nachvollziehbaren Gründen ebenfalls nicht praktikabel und ethisch vertretbar wäre. Die Klägerin müsse für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in eine Intubationsnarkose (ITN) versetzt werden. Die Aligner hingegen könne die Mutter der Klägerin zuhause einsetzen und wechseln. Sie lägen wie eine „zweite Haut“ auf den Zähnen an und reduzierten das Fremdkörpergefühl auf ein Minimum. Die Therapie sei für die Verbesserung der Kau- sowie der Myofunktion nötig. Das Gutachten des MDK sei eine völlige Ausblendung der tatsächlichen schwierigen Umstände des schweren Falles und der damit einhergehenden Ausnahmesituation.

Trotz alledem hielt die Krankenkasse an ihrer Auffassung fest: Bei der Aligner- Therapie handele es sich um eine neue Behandlungsmethode. Da keine Empfehlung des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) vorliege, dürfe sie keine Kosten für die kieferorthopädische Behandlung mittels Aligner-Therapie übernehmen. Der MDK habe darüber hinaus auf die Methoden der konventionellen kieferorthopädischen Behandlung verwiesen, die bewilligt worden sei.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das LSG bestätigte die Entscheidung des Sozialgerichts München, wonach die Klägerin in ihrem besonderen Einzelfall Anspruch auf eine kieferorthopädische Behandlung mittels sog. Aligner-Methode zulasten der GKV habe. Dass es sich bei der Aligner-Methode um eine „neue“, bisher nicht empfohlene Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V handele, stehe dem Anspruch der Klägerin gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 1 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 25 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 03.05.2008 (Behindertenrechtskonvention, UN-BRK), in Deutschland in Kraft seit 01.01.2019, nicht entgegen.

Anspruch aus § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 2 Satz 1, § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 2a SGB V

Das Gericht stellt zunächst den Anspruch der Patientin für die kieferorthopädische Behandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V und § 29 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4, § 92 Abs. 1 SGB V fest und führt zu § 2a SGBV aus:

Zutreffend habe das SG auch § 2a SGBV, wonach den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist, als weitere Anspruchsgrundlage (i.V.m. den o. g. leistungsrechtlichen Vorschriften) für das Begehren der Klägerin herangezogen. Zwar werde § 2a SGB V (nur) als „Auslegungshilfe“ zur Konkretisierung des verfassungsrechtlich verankerten Verbots der Benachteiligung behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Leistungsrecht der GKV angesehen, die einen gesetzlichen Leistungsausschluss nicht zu überwinden vermag. Den „besonderen Belangen“ Rechnung zu tragen, bedeute nicht, jegliche Leistung zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen. § 2a SGB V verpflichtet jedoch, auf die Belange der behinderten oder chronisch kranken Menschen besonders zu achten, d. h. auch im Sinne einer individuellen Medizin dem jeweils individuellen Gesundheitsproblem volle Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Leistung der GKV sei danach weder ausreichend noch zweckmäßig oder bedarfsgerecht, wenn sie nach Art, Inhalt, Umfang und den Umständen der Leistungserbringung nicht den besonderen Belangen des Leistungsberechtigten entspreche, z. B. wenn sie bestehende Unvereinbarkeiten verschiedener Arzneimittel oder sonstiger Therapiearten nicht beachte.

So liege der Fall hier: Nach dem durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung letztlich nicht mehr bestrittenen Vortrag des Bevollmächtigten der Klägerin und vor allem der zahnärztlich- kieferorthopädischen Stellungnahme sei der Senat davon überzeugt, dass im besonderen Fall der Klägerin die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel sei. Konventionelle Methoden (wie eine festsitzende Multiband-/Multibracket-Apparatur oder ein herausnehmbares FKO-Gerät) seien für die Klägerin wegen ihrer schweren Erkrankung/Behinderung ungeeignet und würden ihren besonderen behinderungsbedingten Belangen geradezu widersprechen. Vor allem die vom MDK als Behandlungsalternative genannten Zahnextraktionen widersprächen dem Anspruch der Klägerin auf kieferorthopädische Behandlung und seien zudem ethisch nicht vertretbar vor dem Hintergrund einer möglichen Behandlung mit der Aligner-Methode.
Der Senat sei daher der Auffassung, dass im speziellen Fall der Klägerin viel dafür spreche, dass sich die „Auslegungshilfe“ des § 2a SGB V vorliegend ausnahmsweise zu einem Anspruch auf die begehrte Aligner-Versorgung verdichtet.

Kein Ausschluss nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V

Bei der Aligner/Invisalign-Methode handele es sich um eine „neue“ Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V, für die es (bisher) keine Empfehlung des G-BA gebe. Das Benachteiligungsverbot wegen Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Regelungen über die Gewährung von Zugang zu Gesundheitsdiensten nach Art. 25 UN-BRK überwinden jedoch im speziellen Fall der Klägerin diesen einfachgesetzlichen Leitungsausschluss.

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dürfe niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung von Menschen mit Behinderungen sei nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorlägen. Neben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei auch die UN-BRK bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen, nach der Vertragsstaaten nach Art. 25 BRK insbesondere verpflichtet seien, Menschen mit Behinderung einen in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Zugang zu der für sie notwendigen Gesundheitsversorgung zu verschaffen.

Mit den besonderen behinderungsbedingten zahntechnisch-kieferorthopädischen Belangen und Erfordernissen setze sich die beklagte Krankenkasse in den streitgegenständlichen Verwaltungsentscheidungen indes nicht einmal ansatzweise auseinander. Sie verkenne demgemäß der zahnärztlichen Stellungnahme des Kieferorthopäden, dass die Aligner-Versorgung das einzig geeignete und praktikable Therapiemittel und eine Behandlung mit konventionellen Methoden (wie Multiband- /Multibracket-Apparatur oder FKO-Gerät) bei der Klägerin ungeeignet sei. Demgegenüber beschränke sich die (nur) nach Aktenlage erstellte Stellungnahme des MDK Bayern lediglich auf die formelhafte Feststellung, dass „Die Bisslage grundsätzlich chirurgisch korrigiert werden [kann] oder mittels Zahnextraktionen. Eine Kompromissbehandlung ist auch mit konventionellen Mitteln möglich.“

Als weiterer wesentlicher und besonderer Umstand komme hinzu, dass die Klägerin bei einer zahnmedizinischen Behandlung nicht (aktiv) mitwirken könne und für jede zahnärztliche und kieferorthopädische Intervention und Inspektion in Narkose versetzt werden müsse, was mit zusätzlichen, u.U. nicht unerheblichen, gesundheitlichen Risiken verbunden sei.

Nach Auffassung des Senats befindet sich daher die Klägerin in einer Situation ausgeprägter Schutzbedürftigkeit, in der mit der Vorenthaltung der begehrten Leistung und dem Verweis auf herkömmliche Behandlungsmethoden eine Gefahr für ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf Leben nicht ausgeschlossen werden kann und die es rechtfertigt, dass sich der Schutzauftrag des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nach den oben genannten Grundsätzen vorliegend zu einer konkreten Schutzpflicht verdichtet. Jedes andere Ergebnis ist vor diesem Hintergrund weder medizinisch-ethisch noch juristisch vertretbar.

Von Angelika Enderle, erstellt am 27.11.2024, zuletzt aktualisiert am 27.11.2024

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Was machen bei Zweifeln an der Berufsunfähigkeit

Arbeitsgerichte zu Zweifeln am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilte am 13.12.2023 (Az.: 5 AZR 137/23), dass der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen dann erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorlegt, die exakt die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und der Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nahtlos eine neue Tätigkeit aufnimmt. Das BAG führte dazu aus, dass in einem solchen Fall der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trage. Da das Landesarbeitsgericht hierzu keine Feststellungen getroffen hatte, war die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

Damit führte das Bundesarbeitsgericht (BAG) seine Rechtsprechungslinie vom 08.09.2021 (Az.: 5 AZR 149/21) fort, das damals entschied: Der Umstand, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau den Zeitraum der Kündigungsfrist umfasste, begründe Zweifel am tatsächlichen Bestehen der Arbeitsunfähigkeit. Gelinge das dem Arbeitgeber, müsse der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig war. Das BAG nannte dafür konkret die Möglichkeit, den ausstellenden Arzt von der Schweigepflicht zu entbindet und als Zeuge zu benennt. Dem war die Klägerin im Prozess nicht hinreichend konkret nachgekommen.

Das Landesarbeitsgericht (LArbG) Berlin-Brandenburg sah in seinem Urteil vom 05.07.2024 (Az.: 12 Sa 1266/23) den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gleich durch mehre Indizien als erschüttert an. Als Indiz dafür sei einerseits die passgenau zur Kündigungsfrist erfolgte Krankschreibung zu werten. Zu berücksichtigen sei auch, dass die Höchstdauer der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie überschritten wurde und dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeit für die kommenden 20 Tage attestiert wurde, was gegen die Maximalvorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie verstoße. Dass der Kläger darüber hinaus als Schiedsrichter an einem Handballspiel teilnahm, stütze diese Zweifel.

Mit Urteil vom 06.07.2024 (Az.: 15 SLa 127/24) hat das Landesarbeitsgericht (LArbG) Niedersachsen den Beweiswert einer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert angesehen, weil die Arbeitnehmerin während der attestierten Arbeitsunfähigkeit an einem Trainer–Lizenz–Lehrgang bei der Landesturnschule teilgenommen hatte, nachdem ihr Urlaubsantrag für denselben Zeitraum abgelehnt worden war. Besonders das zeitliche Zusammentreffen zwischen der abgelehnten Urlaubsanfrage, der Krankschreibung sowie die Teilnahme am Lehrgang führten zu erheblichen Zweifeln an der Glaubhaftigkeit der Krankschreibung.
Werde eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit angenommen, obliege dem Arbeitnehmer eine sekundäre Beweislast, so das LAG. Dies habe zur Folge, dass einfaches Bestreiten und der bloße Verweis auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht genügen. Den Arbeitnehmer treffe dann eine weitergehende Substantiierungspflicht und die behandelnden Ärzte müssten von ihrer Schweigepflicht entbunden werden. Da die Klägerin dieser sekundären Beweislast nicht nachgekommen war, bestätigte das Gericht die erstinstanzliche festgestellte Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung.

Fazit: Um die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, müssen Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung (AU-Bescheinigung) vorlegen, aus der das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und ihre voraussichtliche Dauer hervorgeht (§ 5 Abs. 1 Satz 2 und 3 EFZG). Diese ist das gesetzlich vorgesehene Beweismittel und es kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer auch tatsächlich erkrankt sind. Im Streitfalle bleibt es weiterhin Aufgabe des Arbeitgebers, bei begründeten Zweifeln am Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit substanziiert die zur Erschütterung führenden Umstände aufzuzeigen.

Neues Urteil zum Urlaubsanspruch für schwangere Mitarbeiterinnen

BAG: Urlaubsanspruch für Schwangere bleibt trotz Beschäftigungsverbot erhalten

Urteil vom 20.08.2024

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) Erfurt hat mit Urteil vom 20.08.2024 (Az.: 9 AZR 226/23) zugunsten einer Zahnärztin entschieden, dass der angesammelte Urlaubsanspruch auch nach mehreren aufeinanderfolgenden Schwangerschaften mit nahtlos ineinandergreifenden Beschäftigungsverboten erhalten bleibt.

Geklagt hatte eine angestellte Zahnärztin, die im Juli 2018 und im September 2019 Kinder bekommen hatte. Am 1. Dezember 2017 sprach ihr Arbeitgeber ein erstes Beschäftigungsverbot aus und für das zweite Kind ein weiteres. Aufgrund von Beschäftigungsverboten, Mutterschutz und Stillzeiten konnte sie bis zum Ende ihres Arbeitsverhältnisses Ende März 2020 zwei Jahre und vier Monate nicht arbeiten.

Der Arbeitgeber hatte geltend gemacht, während der Beschäftigungsverbote seien keine Urlaubsansprüche entstanden. Für die Zeiten nahtlos ineinandergreifender Beschäftigungsverbote bestünde keine Arbeitspflicht, die ein Erholungsbedürfnis habe begründen können. Jedenfalls seien etwaige Urlaubsansprüche gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG mit Ablauf des Monats März des jeweiligen Folgejahres erloschen. Dem stehe die Regelung in § 24 Satz 2 MuSchG nicht entgegen. Danach verfalle nur Urlaub nicht, den eine Frau „vor“ Beginn eines Beschäftigungsverbots nicht oder nicht vollständig erhalten habe.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das BAG entschied, dass die Urlaubsansprüche entstanden sind, obwohl die Klägerin ihre Tätigkeit als Zahnärztin in der Zeit vom 1. Dezember 2017 bis zur rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 31. März 2020 nicht ausüben konnte und sind nicht gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen.

Nach § 24 Satz 2 MuSchG könne eine Frau Urlaub, den sie vor Beginn eines Beschäftigungsverbots nicht oder nicht vollständig erhalten habe, nach dem Ende des Beschäftigungsverbots im laufenden oder im nächsten Urlaubsjahr beanspruchen. Die Vorschrift regle eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG, dass der Erholungsurlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden müsse.

Die Vorschrift des § 24 Satz 2 MuSchG knüpfe ihre Rechtsfolge fortlaufend an das Ende eines jeden einzelnen Beschäftigungsverbots. Folgten mehrere Beschäftigungsverbote nahtlos aufeinander, könne die Arbeitnehmerin ihren – ggf. über mehrere Beschäftigungsverbote angesammelten – Urlaub nicht vor Beginn des letzten Beschäftigungsverbots „erhalten“. Die Arbeitnehmerin könne in diesem Fall den gesamten bis dahin aufgelaufenen Urlaub gemäß § 24 Satz 2 MuSchG nach Ende des letzten Beschäftigungsverbots im laufenden oder im nächsten Urlaubsjahr beanspruchen. Dies folge bereits aus dem Gesetzeswortlaut, der darauf abstelle, dass die Frau ihren Urlaub vor Beginn „eines“ Beschäftigungsverbots nicht oder nicht vollständig erhalten habe. Die Norm differenziere weder nach der Art des Beschäftigungsverbots noch danach, aus welchen Gründen der Urlaub zuvor nicht genommen werden konnte. Maßgeblich sei allein, dass der Urlaub vor Beginn des (jeweils neuen) Beschäftigungsverbots nicht genommen werden konnte.

Systematisch würden durch die Auslegung Wertungswidersprüche vermieden, weil bei sich nahtlos aneinanderreihenden Beschäftigungsverboten die gleichen Rechtsfolgen einträten wie bei aufeinanderfolgenden Mutterschutzfristen und Elternzeiten. Die Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Erholungsurlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss, gelte in beiden Fällen gleichermaßen.

Diese Auslegung des § 24 Satz 2 MuSchG entspreche den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union müsse gewährleistet sein, dass Arbeitnehmerinnen, die ihre Aufgaben wegen Mutterschaftsurlaubs nicht erfüllen können, den bezahlten Erholungsurlaub zu einer anderen Zeit als der ihres Mutterschaftsurlaubs in Anspruch nehmen können.

Wachstumschancengesetz und die neue E-Rechnung

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BerG Heilberufe Münster: Für fehlende Notdienstvertretung ist Ordnungsgeld fällig

Urteil vom 05.06.2024

Das Berufsgericht (BerG) für Heilberufe beim Verwaltungsgericht Münster entschied mit Urteil vom 05.06.2024 (Az.: 18 K 2105/23.T), dass die Pflicht zur Teilnahme am zahnärztlichen Notfalldienst auch die Pflicht des Zahnarztes umfasst, im Fall der Verhinderung selbst für eine Vertretung zu sorgen und dies der für ihn zuständigen Stelle mitzuteilen. Eine bloße Benachrichtigung der zuständigen Stelle über die Verhinderung zur Wahrnehmung des Notfalldienstes reicht nicht aus.

Sachverhalt der Entscheidung des Berufsgerichts:

Ein Zahnarzt war am Sonntag, dem 02.07.2023 von 8:00 Uhr bis 8:00 Uhr des Folgetages zum zahnärztlichen Notfalldienst eingeteilt. Am Samstagabend vor seinem Notfalldienst ging um 19:13 Uhr beim Notfalldienstbeauftragten und der KZVWL per E-Mail eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein, wonach der Zahnarzt wegen Krankheit dienstunfähig sei. Weitere Bemühungen um eine Vertretung für den Notfalldienst hatte der Zahnarzt unterlassen.

Die KZVWL erteilte dem Zahnarzt aufgrund eines entsprechenden Beschlusses ihres Kammervorstandes eine Rüge, verbunden mit einem Ordnungsgeld in Höhe von 1.000 Euro. Er habe es schuldhaft unterlassen, eine Vertretung für seinen Notfalldienst zu organisieren. Durch seine langjährige zahnärztliche Tätigkeit sei es ihm bewusst gewesen oder hätte es ihm zumindest bewusst sein müssen, dass er im Fall der Verhinderung einen Vertreter suchen müsse. Diese Pflicht entfalle nur, wenn krankheitsbedingte oder sonstige die Dienstunfähigkeit begründenden Umstände so gravierend seien, dass auch die Vertretungssuche unmöglich sei.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach Meinung des Gerichts war die Rüge mit Ordnungsgeld rechtlich nicht zu beanstanden, da der Zahnarzt die ihm obliegenden Berufspflichten schuldhaft verletzt hat. Jedenfalls nach der Notfalldienstordnung Westfalen-Lippe umfasst die Pflicht zur Teilnahme am Notfall auch die Pflicht des Zahnarztes, im Fall der Verhinderung selbst für eine Vertretung zu sorgen und dies der für ihn zuständigen Bezirksstelle bzw. dem von der Bezirksstelle Beauftragten für den zahnärztlichen Notfalldienst mitzuteilen.

Das Gericht stellt dazu fest, der Antragsteller habe selbst eingeräumt, sich wegen der krankheitsbedingten Verhinderung an der Wahrnehmung des zahnärztlichen Notfalldienstes nicht um eine Vertretung gekümmert zu haben, indem er angab, ihm sei es „aufgrund der akuten Erkrankung nicht möglich gewesen, den Dienst durchzuführen oder eine Vertretung zu organisieren“. Er sei aufgrund seiner „Erkrankung mit hohem Fieber und Apathie nicht in der Lage“ gewesen, selbst E-Mails zu versenden oder „Kollegen abzutelefonieren, ob diese den Notfalldienst übernehmen könnten“.

Die oben genannte Pflicht, im Fall der Verhinderung selbst für eine Vertretung zu sorgen, habe der Antragsteller auch nicht dadurch erfüllt, dass seine Ehefrau die ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per E-Mail dem zuständigen Notfalldienstbeauftragten und der KZVWL übermittelt habe. Zur Erfüllung der Berufspflicht nach § 3 Abs. 5 Satz 2 NFDO reiche eine bloße Benachrichtigung des Notfalldienstbeauftragten über die Verhinderung zur Wahrnehmung des Notfalldienstes nicht aus. Vielmehr habe der betreffende Zahnarzt nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift „selbst für eine Vertretung zu sorgen“.

Krankheit reicht als Entschuldigung nicht aus

Der Antragsteller könne sich auch nicht mit dem Hinweis darauf entschuldigen, er habe am Morgen des 30.06.2023 sehr hohes Fieber gehabt und sei kaum ansprechbar gewesen. Die Kammer weise zu Recht darauf hin, dass der Antragsteller am 30.06.2023 oder am 01.07.2023 noch rechtzeitig eine Vertretung für seinen Notfalldienst hätte finden können, wobei auch Praxispersonal oder Angehörige herangezogen werden könnten. Gerade aufgrund seiner – von ihm auch selbst hervorgehobenen – langjährigen Tätigkeit als Zahnarzt hätte dem Antragsteller seine Berufspflicht bewusst sein müssen. Auch wenn der Antragsteller zu den in Rede stehenden Zeitpunkten aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen sein sollte, sich persönlich um einen zu seiner Vertretung bereiten Zahnarzt zu bemühen, hätte er zumindest – ebenso wie bei der Beschaffung und beim Versenden der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – mithilfe Dritter den Versuch unternehmen müssen, seine Vertretung zu organisieren. Hierfür hätten nach den Angaben der Antragsgegnerin verschiedene telefonische Möglichkeiten und Angebote im Internet zur Verfügung gestanden.

LAG Köln: Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung im Kleinbetrieb Urteil vom 23.01.2024

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln hat mit Urteil vom 23.01.2024 (Az.: 4 Sa 389/23) entschieden, dass die Kündigung einer Zahnmedizinischen Fachangestellten nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstieß, wonach ein Arbeitnehmer nicht benachteiligt werden darf, weil er in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Entscheidend war hierbei, dass die Kündigung der Klägerin nicht hauptsächlich wegen der krankheitsbedingten Abwesenheit, sondern aufgrund andauernder Teamkonflikte ausgesprochen wurde. Wenn ein Arbeitgeber im Kleinbetrieb eine Kündigung auf Unstimmigkeiten und Probleme im zwischenmenschlichen Umgang im Betrieb stützt, ist dies nicht zu beanstanden.

Sachverhalt:

In dem zugrunde liegenden Fall hatte eine Arbeitnehmerin geklagt, die in einer Zahnarztpraxis mit weniger als zehn Arbeitnehmer (Kleinbetrieb) beschäftigt war. Zwischen der Klägerin und einer Kollegin gab es Konflikte, wobei die genauen Ursachen hierfür sind zwischen den Parteien streitig sind.

In der Zeit vom 16.05.2022 bis zum 27.05.2022 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Hierzu reichte sie eine entsprechende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Beklagten ein. Der letzte Tag der attestierten Arbeitsunfähigkeit fiel auf einen Freitag. An dem folgenden Montag meldete sich die Klägerin erneut krank und übermittelte hierfür per WhatsApp ein Foto einer weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Mit Schreiben vom selben Tag kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich.

Die beklagte Arbeitgeberin hatte dazu vorgetragen, die Krankheit der Klägerin sei nicht ursächlich für die Kündigung gewesen, sondern ausgesprochen worden, weil es bereits seit 2020 anhaltende Konflikte im Team der Praxis gegeben habe.

Das Urteil:

Das Landesarbeitsgericht weist zunächst darauf hin, dass der klagende Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 612a BGB trägt und damit auch für den Kausalzusammenhang zwischen benachteiligender Maßnahme und zulässiger Rechtsausübung. Er habe einen Sachverhalt vorzutragen, der auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Maßnahme des Arbeitgebers und einer vorangegangenen zulässigen Ausübung von Rechten hindeutet. Der Arbeitgeber muss sich nach § 138 Abs. 2 ZPO im Einzelnen zu diesem Vortrag erklären. Sind entscheidungserhebliche Behauptungen des Arbeitnehmers streitig, sind grundsätzlich die von ihm angebotenen Beweise zu erheben.

Da die Klägerin nicht ausreichend darlegen konnte, dass die Kündigung vornehmlich deswegen ausgesprochen wurde, weil sie trotz Arbeitsunfähigkeit nicht zur Arbeit erschienen ist, sah das Gericht in der Kündigung keinen Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB. In dem Telefonat am 30.05.2022 mit der Arbeitgeberin sei nicht nur die krankheitsbedingte Abwesenheit der Klägerin Thema, sondern auch die Konflikte am Arbeitsplatz mit zumindest einer weiteren Mitarbeiterin sowie von der Klägerin monierte fehlerhafte Abrechnungen, was die Klägerin auf Nachfrage der Berufungskammer eingeräumt hat.

Damit sei ein Rückschluss darauf, dass die Beklagte die Kündigung „vornehmlich“ aufgrund des krankheitsbedingten Fernbleibens ausgesprochen hätte, aber nicht möglich.

Insoweit konnten die Richter einen direkten Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Ausübung eines Rechts durch die Klägerin aber nicht feststellen. Es sei grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Arbeitgeber im Kleinbetrieb eine Kündigung auf Unstimmigkeiten und Probleme im zwischenmenschlichen Umgang im Betrieb stütze.

Hinweis: Bereits das Arbeitsgericht Köln hatte darauf hingewiesen, dass aufgrund der geringen Anzahl von Beschäftigten in einer Arztpraxis und der Tatsache, dass man sich dort auch nicht aus dem Weg gehen könne, es rechtfertige – anders als im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes – Kündigungen auch zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Teamstruktur auszusprechen.

Anwendung des Medikaments Toxavit nur in Ausnahmefällen

OLG Jena: Anwendung des Medikaments Toxavit nur in Ausnahmefällen

Urteil vom 23.01.2024

Trotz bestehender Zulassung wird die Applikation aldehydhaltiger Devitalisierungsmittels (z.B. Toxavit®) unter gesundheitlichen Gesichtspunkten für Patienten nicht mehr empfohlen. So wird laut Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Zahn- und Kieferheilkunde (DGZMK) die Anwendung von aldehyd- oder formokresolhaltigen Präparaten zur Pulpotomie wegen mutagener und kanzerogener Eigenschaften deutlich in Frage gestellt (DGZMK, Stellungnahme: Endodontie im Milchgebiss, Stand Juni 2002).
Auch aus juristischer Sicht erscheint die die Anwendung für den Zahnarzt kritisch. So führt das Oberlandesgericht (OLG) Hamm in seiner Entscheidung vom 24.10.2006 (Az.: 26 U 171/05) aus, dass die Verwendung des Medikamentes Toxavit zur Abtötung des Pulpengewebes einen groben Behandlungsfehler darstellt.
Mit Urteil vom 23.01.2024 (Az.: 7 U 1170/22) hält das Oberlandesgericht (OLG) Jena die Anwendung des Medikaments Toxavit als behandlungsfehlerhaft. Sachverständig beraten habe das Erstgericht festgestellt, dass die Mortaltechnik, d. h. die Abtötung des noch schmerzreaktiven Nervengewebes zum Zweck der Schmerzbeseitigung unter Verwendung des Medikaments Toxavit, nicht mehr dem gegenwärtigen zahnmedizinischen Kenntnisstand entspreche.
Die Anwendung von Toxavit könne in bestimmten Ausnahmefällen indiziert sein; sie erfordere eine Risikoabwägung und es bedürfe dann einer – dokumentationspflichtigen – entsprechenden Begründung durch den Zahnarzt. Aus der Behandlungsdokumentation des Beklagten ergeben sich diese Voraussetzungen indes nicht.
Kein grober Behandlungsfehler
Allerdings konnte der Patient das Vorliegen eines Behandlungsfehlers nicht nachweisen. Das Landgericht sei, den plausiblen Ausführungen des Sachverständigen folgend, in nicht zu beanstandender Würdigung des Beweisergebnisses zu der Überzeugung gelangt, dass die vom Kläger erlittene Entzündung des Kieferknochens nicht auf die Medikation zurückzuführen sei. Somit stelle die Anwendung des Medikaments Toxavit keinen groben Behandlungsfehler dar, der zur Umkehr der Beweislast führe.
Von Expertenmeinung kann abgewichen werden
Zudem gelte zu berücksichtigen, dass das Medikament Toxavit nach wie vor im Handel erhältlich und in der Bundesrepublik Deutschland auch als Arzneimittel zugelassen sei. Zwar werde in der zahnmedizinischen Fachliteratur von der Anwendung von Mortaltechniken abgeraten und die Anwendung von Devitalissationsmedikamenten wie Toxavit kritisch gesehen, da ihnen ein ungünstiges Nutzen-Risiko- Verhältnis zugeschrieben werde. Bei dieser zahnmedizinischen Fachliteratur handle es sich aber bestenfalls um eine S1-Leitlinie, das heißt, um eine durch ärztliche Fachgremien gesetzte Handlungsempfehlung, die aber nicht unbesehen mit dem medizinischen Standard gleichzusetzen sei und damit um eine Expertenmeinung, von der abgewichen werden könne.

Erhebung des PSI (BEMA-Nr. 04) ist keine Überweisungsleistung

LSG NRW: Erhebung des PSI (BEMA-Nr. 04) ist keine Überweisungsleistung

Urteil vom 10.04.2024

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) stellt mit Urteil vom 10.04.2024 (Az.: L 11 KA 36/20) klar, dass ein Fachzahnarzt für Parodontologie und Oralchirurgie insbesondere bei Zielüberweisungen die BEMA-Nr. 04 für Untersuchung mithilfe des parodontalen Screening-Index (PSI) nicht abseits des Überweisungsauftrags erheben darf.
Hintergrund: 
Der Kläger ist Fachzahnarzt für Parodontologie und für Oralchirurgie und zur vertragszahnärztlichen Versorgung zugelassen. Er setzt das PSI-Verfahren regelhaft ein, auch für Patienten, die mit Zielauftrag an die Praxis überwiesen werden. Er war schon mehrfach (1/2007 bis 4/2008, 1/2010 bis 4/2011, 1/2013 bis 4/2013 sowie 1/2014 bis 4/2014) auf die Gebührennummer 04 geprüft worden und von der Prüfungsstelle auf Abweichungen aufmerksam gemachen worden.
Mit Beschluss vom 10. Juli 2018 kürzte die Prüfungsstelle sodann das Honorar des Klägers bzgl. der Gebührennummer 04, soweit der allgemeine Durchschnitt dieser Leistung um mehr als 400 % überschritten wurde.
Der Kläger trug zur Begründung vor: Hinsichtlich der beanstandeten Leistungen nach Gebührennummer 04 lägen ausreichend Praxisbesonderheiten vor, um etwaige Überschreitungen vollständig aufzuklären. Zudem habe die Gebührennummer 04 eine Ausnahmestellung. Der Parodontale-Screening-Index (PSI) sei dazu da, um aus dem Kollektiv kranke Patienten herauszufiltern.
Aus den Entscheidungsgründen:
Anders als im Bundesmantelvertrag für die Ärzte gebe es im BMV-Z zwar keine entsprechende ausdrückliche Regelung. Aus § 8 Abs. 3 Satz 2 der Berufsordnung der Zahnärztekammer Westfalen-Lippe folge jedoch, dass der Zahnarzt u.a. eine Überweisungsbehandlung über den begrenzten Auftrag und die notwendigen Maßnahmen hinaus nicht ausdehnen dürfe.
„Ist ein Zielauftrag nicht hinreichend präzise, ist er demgegenüber verpflichtet, beim Überweiser Nachfrage zu halten (Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 – L 11 KA 142/11 zu Vertragsärzten).“

Unabhängig von dieser Frage sei weder erkennbar noch durch den Kläger hinreichend substantiiert vorgetragen, in welchem Fällen, in denen ihm Patienten zur chirurgischen Behandlung überwiesen worden sind, einzelfallbezogen ein PSI erforderlich gewesen sei.

„Der Beklagte verweist insofern zutreffend darauf, dass es auch bei Berücksichtigung des Vortrages bezogen auf unkorrekte/unvollständige Zielaufträgen nicht nachvollziehbar sei, woraus sich regelmäßig die Notwendigkeit eines Screenings bei Patienten ergeben solle, die für chirurgische Maßnahmen wie z.B. Wurzelspitzenresektionen oder Osteotomien zugewiesen werden. Der Beklagte hat sich diesbezüglich auf die Auswertung von 26 gesichteten Behandlungsfällen aus dem Quartal 1/2015 gestützt. In 24 der gesichteten Fälle lagen Überweisungen vor; gleichfalls in 24 der Fälle wurde ein PSI-Code erhoben. In 20 Fällen erfolgte die Überweisung mit überwiegend chirurgischen Zielaufträgen.

Auch die Erwägung des Beklagten, dass der nahezu flächendeckende Einsatz des PSI nicht im Einklang mit den rechtlichen Vorgaben der vertragszahnärztlichen Tätigkeit steht, ist im Hinblick auf die obigen Erwägungen beurteilungsfehlerfrei.“
Letztlich sei die Einlassung des Klägers besser, gründlicher und sorgfältiger als die Fachkollegen zu praktizieren, nicht geeignet, objektiv festgestellt und als Praxisbesonderheit anerkannt zu werden. Dabei handle es sich gerade nicht um Umstände, die in der Patientenstruktur liegen, sondern die – wenn sie zutreffen sollten –arztbezogen seien.

BGH: Gericht darf sich keine medizinische Sachkunde anmaßen

BGH: Gericht darf sich keine medizinische Sachkunde anmaßen

Urteil vom 12.03.2024

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich mit Urteil vom 12.03.2024 (Az.: VI ZR 283/21) mit den Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis im Rahmen medizinischer Fragestellungen befasst. Der BGH betont, dass ein Richter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten darf, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde verfügt.

Konkret ging es um eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Das Oberlandesgericht Köln hatte einem physisch wie psychisch erkrankten Mann Arbeitsfähigkeit „attestiert“, ohne ein Sachverständigengutachten einzuholen und hatte sich damit eigenständig über entgegenstehende Atteste des Hausarztes und einer Psychotherapeutin hinweggesetzt.

Gericht hatte keine entsprechende Sachkunde

Der BGH führt dazu aus, dass Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht verpflichtet, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben.

Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur dann verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag.

Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen.

Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Damit hat sich das Berufungsgericht medizinische Sachkunde bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten angemaßt, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt hat.

Das Berufungsgericht hätte die Arbeitsfähigkeit im angenommenen Umfang angesichts der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen – die entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht lediglich „bloße Behauptungen“ der Klägerin, sondern qualifizierten Sachvortrag zur Frage der Arbeitsfähigkeit des Geschädigten darstellen – nicht bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines hinsichtlich der berührten medizinischen Bereiche fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen.

Keine Ausnahmeindikation für Implantate aufgrund genetisch bedingter Erkrankung

LSG NRW: Keine Ausnahmeindikation für Implantate aufgrund genetisch bedingter Erkrankung

Urteil vom 06.02.2023

Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen lehnt mit Urteil vom 06.02.2023 (Az.: L 5 KR 739/22) für Versicherte der GKV den Anspruch auf eine implantologische Versorgung ab, die an einer sogenannten Amelogenesis imperfecta, Hypomineralisations-/Hypomaturationstyp leiden. Hierbei handelt es sich um eine seltene genetisch bedingte Erkrankung, bei der die Bildung des Zahnschmelzes beeinträchtigt ist. Dem folgend besteht ein erhöhtes Risiko der Kariesbildung der Milchzähne und der bleibenden Zähne, meist werden die Zähne restaurationsbedürftig, z.B. durch frühzeitige Überkronungen.

Der von der Krankenkasse eingeschaltete Gutachter stellte eine nicht erhaltungswürdige Restbezahnung im Oberkiefer fest. Die Erkrankung der Patientin habe zum Verlust der Zähne geführt. Eine Ausnahmeindikation löse dieses Krankheitsbild jedoch nicht aus. Geplant seien acht Implantate mit rein implantatgetragenen Brücken. Die konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei jedoch möglich.

Die Patientin erhob daraufhin Klage bei dem Sozialgericht Münster und trug ergänzend vor, die Behandlungsrichtlinie möge zwar durchaus außenwirksames Recht setzen, es bestehe aber dennoch „ein Spielraum in der verbindlichen Leistungserbringerpflicht im Rahmen einer Ermessensausübung“. Dieses Ermessen sei nicht fehlerfrei ausgeübt worden. Ihre Erkrankung sei unter die Ausnahmeindikation „generalisierte Nichtanlage von Zähnen“ zu subsumieren. Die Brücke, mit welcher sie im Oberkiefer versorgt sei, halte nicht an Zähnen (die nicht vorhanden seien), sondern an Wurzeln. Diese seien gelblich, weich, quasi wie Gummi. Das Zahnfleisch „falle“ herunter, der Knochen befinde sich im Auflöseprozess. Sie leide daher auch unter einem Kieferdefekt. Die konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate sei absolut unzweckmäßig und nur „Flickwerk“. Ihr Oberkiefer sei immer mehr in Mitleidenschaft gezogen. Die Nahrungsaufnahme sei zunehmend beschwerlich und die gesamtgesundheitliche Situation leide. Ihr Zahnarzt habe zudem eine angeborene Fehlbildung des Kiefers bescheinigt.

Die Klägerin hat überdies ein Attest einer Fachärztin für Allgemeinmedizin vorgelegt. Danach leide sie unter erheblichen Zahnproblemen mit zahlreichen Eingriffen und reaktiver psychischer Belastung. Durch die angestrebte Implantatversorgung könne die psychische Belastung der Klägerin reduziert und durch die Stabilisierung der Kiefermotorik eine chronisch-mandibuläre Dysfunktion behandelt werden. Dadurch würden Folgekosten durch anhaltendes Schmerzsyndrom, psychische Belastungsreaktionen und Krankheitsfehlzeiten reduziert.

Schließlich legte die klagende Patientin noch ein Attest einer psychologischen Psychotherapeutin vor. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Erkrankung Ängste beim Essen und Selbstwertprobleme entwickelt. Sie habe nicht in Gesellschaft essen oder lachen können. Diese Erlebnisse sowie die Auseinandersetzung mit der Beklagten würden psychotherapeutisch aufgearbeitet. Eine Unterstützung der Klägerin in ihrer Leidensgeschichte sei wünschenswert.

Das Sozialgericht Münster gab der Patientin daraufhin Recht und verurteilte die Krankenkasse zur Leistung bezüglich der implantologischen Versorgung im Oberkiefer gemäß § 13 Abs. 3 S.1 SGB V. In zweiter Instanz wurde dieses Urteil sachverständig beraten abgeändert und der Anspruch durch das Landessozialgericht verneint.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB V habe die Krankenkasse, sofern sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden seien, diese Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Dieser Kostenerstattungsanspruch reiche nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch (vgl. zuletzt nur BSG, Urteil vom 10.03.2022 – B 1 KR 2/21 R Rn. 8). Ein solcher Sachleistungsanspruch bestand vorliegend jedoch nicht. Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, die Klägerin mit Zahnimplantaten zu versorgen.

Wörtlich stellt das Gericht fest:

„Sind die Voraussetzungen dieser Ausnahmeindikationen erfüllt, besteht – auch im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung – Anspruch auf Implantate zur Abstützung von Zahnersatz als Sachleistung nur dann, wenn eine konventionelle prothetische Versorgung ohne Implantate nicht möglich ist (Abschnitt B VII 2 Satz 2 Behandlungsrichtlinie). Sämtliche Voraussetzungen sind vorliegend jedoch nicht erfüllt.

Anders als es das Sozialgericht meint, fehlt es schon an einer medizinischen Gesamtbehandlung i. S. d. § 28 Abs. 2 S. 9 SGB V. Für eine solche reicht es – wie bereits dargelegt – nicht aus, dass mit der Wiederherstellung der Kaufunktion auch andere medizinische Zwecke erreicht werden (st. Rspr. des BSG, dazu grundlegend Urteil vom 07.05.2013 – B 1 KR 19/12 R, zuletzt bestätigt durch Beschluss vom 07.12.2022 – B 1 KR 48/22 BH). Nachvollziehbar war die Klägerin vorliegend zwar aufgrund des Zustandes ihrer Zähne bei der Nahrungsaufnahme eingeschränkt. Es erscheint auch nachvollziehbar, dass die Klägerin psychisch unter ihrer Erkrankung litt, weil sie zum einen das Abbrechen weiterer Zähne befürchtete und zum anderen beim Lachen und Sprechen optische und phonetische Beeinträchtigungen vorlagen. Es steht jedoch keinesfalls fest – worauf der gerichtliche Sachverständige zutreffend hinweist –, dass ein medizinisches Gesamtbehandlungskonzept vorlag, weil schon Behandlungsfrequenz und -zeitraum der hausärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung nicht nachgewiesen wurden. Überdies stand auch unter Berücksichtigung dieser Aspekte die Wiederherstellung der Kaufunktion eindeutig im Vordergrund. Die erforderliche medizinische Gesamtbehandlung muss sich aber aus verschiedenen, nämlich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Das Tatbestandsmerkmal der medizinischen Gesamtbehandlung schließt daher von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit hinausreicht (BSG, Beschluss vom 07.12.2022 – B 1 KR 48/22 BH).“