Zahnsanierung vor Herzklappenersatz

Die S2k-Leitlinie „Zahnsanierung vor Herzklappenersatz“ wurde aktualisiert. Die dritte Fassung der Empfehlungssammlung enthält nun acht neue Empfehlungen sowie zwei neue Statements. Zum ersten Mal ist beispielsweise „der optimale Zeitpunkt der konsiliarischen Beurteilung vor dem Herzklappenersatz und die Dauer sowie Frequenz der zahnärztlichen Kontrollen nach Herzklappenersatz definiert“ worden.

 

Unter „Zahnsanierung vor Herzklappenersatz“ wird in der Leitlinie, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) erstellt wurde, „eine oder mehrere Maßnahmen zur Elimination akuter und/ oder chronischer Entzündungsgeschehen verstanden mit dem Ziel einer Behandlungsfreiheit nach dem Herzklappenersatz für mindestens sechs Monate“.

Zielgruppe

Die Leitlinie richtet sich vornehmlich an Zahnärzte (Fachzahnärzte für Oralchirurgie/ Fachzahnärzte für Parodontologie/ spezialisierte Zahnärzte für Endodontologie, Parodontologie und Implantologie) sowie Fachärzte für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und Fachärzte für Herzchirurgie. Sie ist aber auch als Information für Kardiologen gedacht.

Themen

Um Redundanzen zu vermeiden, wurde die Leitlinie den Autoren zufolge in Teilen neu gegliedert: Themen der nun vorliegenden Leitlinie sind beispielsweise die „Inzidenz dentogener Endokarditiden nach Herzklappenersatz“, die „Mundhöhle als Quelle einer Endokarditis nativer und ersetzter Herzklappen“, der „Einfluss der Technik des Herzklappenersatzes (offenchirurgisch versus interventionell kathetergestützt) auf die Inzidenz und Verteilung der bakteriellen Besiedlung einer Endokarditis“, „evidenzbasierte Kriterien zur Erhaltungswürdigkeit von Zähnen“, die „evidenzbasierte Diagnostik (klinisch/radiologisch) als Mindestanforderung zur Beurteilung der Erhaltungswürdigkeit von Zähnen“ oder der „Einfluss der oralen Hygiene auf die Inzidenz der bakteriellen Endokarditis“.

Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick:

Für die Risiko-Stratifizierung und die Behandlungsempfehlung sollten die Dokumente zur Anamnese und zur spezifischen kardialen Vorgeschichte zur Verfügung stehen.

Als notwendige Untersuchungen zur Therapieentscheidung sollen durchgeführt werden:

  • Inspektion,
  • Sensibilitätstest der Zähne,
  • Kontrolle der Sondierungstiefen (empfohlen: PSI), wenn nicht durch vorangegangene Untersuchungen festgestellt wurde, dass eine sanierungsbedürftige Parodontitis vorliegt,
  • Röntgenuntersuchung unter vollständiger Darstellung der Zähne inklusive der periapikalen Region und Darstellung relevanter umgebender anatomischer Strukturen, ggf. unter Einbeziehung früherer Aufnahmen zur Verlaufskontrolle.

Alle beteiligten Disziplinen sollten gemeinsam und interdisziplinär eine geeignete, patientenindividuelle Vorgehensweise festlegen und dabei alle potentiell relevanten Versorgungsaspekte abwägen.

Um die Mundhygiene der Patienten vor Herzklappenersatz zu optimieren, sollen individuell angepasste Techniken und Hilfsmittel empfohlen werden. Die Patienten sollten die richtige Anwendung dieser Hilfsmittel ggf. mit professioneller Unterstützung und Übungen erlernen.

Es sollte, wenn es die allgemeine und kardiale Krankheitssituation des Patienten zulässt, ein ausreichendes Intervall (bei Eröffnung der Schleimhaut, wenn möglich, 10 bis 30 Tage) zwischen indiziertem Herzklappenersatz und dennoch notwendiger Zahnsanierung beachtet werden.

Nach einem Herzklappenersatz sollten die Patienten zur regelmäßigen zahnärztlichen Nachsorge (Recall-System) beim behandelnden Zahnarzt, Oralchirurgen oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen für das erste postinterventionelle Jahr möglichst vierteljährlich einbestellt werden, um die alltäglichen Bakteriämieraten so gering wie möglich zu halten und um den Erfolg häuslicher Mundhygienemaßnahmen (Zähneputzen und Interdentalhygiene) zu überprüfen.

Bei invasiven dentalen Prozeduren sollte und bei moderaten dentalen Prozeduren kann eine Antibiotikaprophylaxe erfolgen.

Clindamycin kann häufigere und schwerwiegendere Nebenwirkungen hervorrufen als andere Antibiotika, die für eine Antibiotikaprophylaxe verwendet werden. Bei einer Unverträglichkeit von Penicillin oder Ampicillin sollte somit Cephalexin, Azithromycin/Clarithromycin, Doxycyclin oder Cefazolin/Ceftriaxon verordnet werden.

Zur Leitlinie:

DGMKG, DGZMK: „Zahnsanierung vor Herzklappenersatz“, Langfassung 2025, Version 3.0, AWMF-Registriernummer: 007-096

Paradontitis als neuer Risikofaktor identifiziert

Hat die Mundflora einen direkten Einfluss auf die Entstehung von Bauchspeicheldrüsenkrebs? Diese Frage beschäftigt Forschende aus den USA, die über mehrere Jahre Probanden und deren orale Bakterien und Pilze beobachteten. Heraus kam, dass manche Bakterien mit einem signifikant erhöhten Risiko für das Pankreaskarzinom einhergehen.


Im Jahr 2022 erkrankten in Deutschland etwa 18.700 Menschen an einem Bauchspeichelsdrüsenkrebs. Gesicherte Risikofaktoren sind Rauchen, starkes Übergewicht und Diabetes mellitus Typ 2, ebenso ein hoher Alkoholkonsum und stattgehabte Pankreatitiden

Bauchspeicheldrüsenkrebs gilt als eine der tödlichsten Krebserkrankungen: Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei nur 13 Prozent. Bekannte Risikofaktoren wie Rauchen, Adipositas, Pankreatitis oder genetische Prädisposition erklären jedoch weniger als ein Drittel aller Fälle. Forschende vermuten, dass orale Mikroorganismen das Risiko für Pankreaskarzinome beeinflussen. Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass eine schlechte Mundgesundheit und insbesondere Parodontitis das Erkrankungsrisiko erhöhen. Bislang fehlt es jedoch an systematischen Untersuchungen zur Rolle von oraler Mundflora und Krebsrisiko.

Mundspüllösung und Daten gesammelt

Um diese Zusammenhänge genauer zu beleuchten, führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine prospektive Studie in zwei großen US-Kohorten mit rund 155.000 Teilnehmenden durch. In beiden Kohorten wurden zwischen 2000 und 2003 Mundspüllösungen als Biomaterial genommen. Daten zu Krebserkrankungen wurden über Krankenakten, Krebsregister und Sterbeurkunden gesammelt. Patientinnen und Patienten mit neu aufgetretenem Pankreaskarzinom, wie vor der Diagnose eine Probe abgegeben hatten, wurden in die Studie eingeschlossen. Die Forschenden analysierten die Bakterien durch whole-genome Shotgun-Sequenzierung und die Pilze durch ITS-Sequenzierung, um das orale Mikrobiom präzise zu charakterisieren.

Ziel der Studie, die in JAMA Oncologypubliziert wurde, war es, das Risiko für Bauchspeicheldrüsenkrebs in Abhängigkeit von einzelnen Mikrobenarten zu bestimmen einen mikrobiellen Risikoscore zu etablieren.

Erhöhtes Risiko durch Paradontitis-Keime

Die Studie ergab, dass bestimmte orale Bakterien und Pilze signifikant mit einem erhöhten Risiko für Pankreaskarzinome verbunden waren. Die Analysen identifizierten drei periodontale Bakterien (Porphyromonas gingivalis, Eubacterium nodatum und Parvimonas micra), die das Risiko für Bauchspeicheldrüsenkrebs signifikant erhöhten. In präklinischen Modellen wanderten sie direkt in das Pankreas und beschleunigten dort die Tumorentstehung. Die Forschenden vermuten, dass dies über eine Veränderung des Mikrobioms in der Bauchspeicheldrüse geschehe, was schließlich über Toxine, Metabolite und Immunreaktionen karzinogene Prozesse antreiben könnte.

Darüber hinaus fanden die Forschenden insgesamt 13 weitere Bakterienarten, die mit einem höheren Risiko assoziiert waren, während acht Bakterienarten das Risiko senkten. Aufseiten der Pilze war vor allem die Gattung Candida mit einer erhöhten Krebswahrscheinlichkeit verknüpft.

Zusammengenommen ergab sich aus 27 Keimen ein Mikrobieller Risikoscore (MRS): Jede Standardabweichung beim Anstieg im MRS war mit einem mehr als dreifach erhöhten Risiko für die Entwicklung eines Pankreaskarzinoms verbunden (Odds Ratio 3,44; 95%-KI: 2,63–4,51).

Mundgesundheit ist Krebsprävention

Mit der Studie rücke die Mundgesundheit stärker in den Fokus der Krebsprävention. Sie liefere Evidenz, dass die orale Mikrobiota ein relevanter Risikofaktor für Bauchspeicheldrüsenkrebs sei, erklären die Forschenden abschließend. Insbesondere die Kombination von Bakterien- und Pilzdaten in einem Mikrobiellen Risikoscore eröffne die Möglichkeit, nichtinvasive Biomarker für die Identifikation von Hochrisikopatientinnen und -patienten zu entwickeln.

Langfristig könnten gezielte orale Gesundheitsinterventionen, mikrobiombasierte Tests und personalisierte Präventionsstrategien dazu beitragen, die Belastung durch Pankreaskarzinome zu verringern.

 

Originalpublikation:
Meng Y, Wu F, Kwak S, et al. Oral Bacterial and Fungal Microbiome and Subsequent Risk for Pancreatic Cancer. JAMA Oncol. Published online September 18, 2025.
doi:10.1001/jamaoncol.2025.3377

Mondphasen und Migräne: Neue Hinweise für zirkalunaren Rhythmus

Migräne zählt zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Eine neue Studie untersucht erstmals prospektiv, ob die Mondzyklen das Auftreten von Migräneattacken beeinflussen – mit klinisch relevanten Ergebnissen.

Trigger für Migräneattacken bislang unvollständig aufgeklärt

Migräne ist mit einer weltweiten Prävalenz von etwa 15 % eine der führenden Ursachen für krankheitsbedingte Einschränkungen. Charakteristisch sind plötzliche, teils hochgradig belastende Schmerzattacken, deren Unvorhersehbarkeit für Patienten eine erhebliche Belastung darstellt. Bekannte Trigger wie Stress, Schlafmangel oder hormonelle Veränderungen erklären das Auftreten nur teilweise, wodurch die Entwicklung zuverlässiger Vorhersagemodelle bislang limitiert blieb.

Chronobiologische Rhythmen als Einflussfaktor bei Migräne

Chronobiologische Muster sind in der Migräneforschung seit Langem von Interesse. Neben tageszeitlichen und saisonalen Schwankungen wird seit Jahrzehnten auch ein Zusammenhang mit dem Menstruationszyklus diskutiert. Da viele biologische Prozesse lunaren Rhythmen unterliegen, lag die Hypothese nahe, dass Migräneattacken ebenfalls mit den Mondphasen korrelieren könnten. Belastbare prospektive Daten dazu fehlten bislang.

Prospektive Studie zu möglicher Assoziation zwischen Migräneattacken und Mondphase

Die aktuelle Analyse eines Forscherteams um Dr. Alexander Yoo von der University of Pennsylvania Perelman School of Medicine in Philadelphia, USA, nutzte Daten einer prospektiven Kohortenstudie mit 98 Erwachsenen, die zwischen 2016 und 2017 rekrutiert wurden und seit mindestens 3 Jahren unter episodischer Migräne litten. Ausgeschlossen wurden Personen mit chronischen Schmerzsyndromen, unbehandelter obstruktiver Schlafapnoe, Schwangerschaft, bestehenden Opioidtherapie oder nicht kontrollierten schwerwiegenden Komorbiditäten.

Über einen Zeitraum von sechs Wochen führten die Teilnehmer elektronische Kopfschmerztagebücher und trugen Aktigrafie-Geräte zur Erfassung von Schlafparametern. Zusätzlich wurden – falls relevant – Menstruationszyklen dokumentiert. Die Zuordnung der Kalendertage zu den Mondphasen erfolgte auf Basis astronomischer Referenzdaten.

Zunahme der Migräneattacken kurz vor Neumond

Die Analyse von 4.308 Beobachtungstagen zeigte eine signifikante Zunahme der Migränehäufigkeit in Abhängigkeit von den Mondphasen. Die Kopfschmerzrisiken stiegen um bis zu 34 % im Vergleich zu den Phasen um den Vollmond und erreichten ihr Maximum etwa 1–2 Tage vor Neumond. Schlafdauer, Schlafeffizienz, Menstruation und Menopausenstatus erwiesen sich nicht als wesentliche Mediatoren.

Potenzielle Mechanismen zum Einfluss der Mondphasen auf Migräne

Die genauen Ursachen bleiben unklar. Diskutiert werden sowohl direkte Einflüsse lunarer Umweltfaktoren wie Licht und Gravitation als auch endogene Oszillatoren, die durch Mondzyklen synchronisiert werden. Besonders interessant ist die mögliche Rolle zirkadianer Gene wie Casein-Kinase-1δ, das sowohl mit Migräne als auch mit anderen biologischen Rhythmen assoziiert ist.

Erstmals prospektive Hinweise auf Zusammenhang zwischen Migräneattacken und Mondphasen

Die Studie liefert erstmals prospektive Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Migräneattacken und Mondphasen. Für die klinische Praxis eröffnen sich neue Perspektiven in der personalisierten Prävention: Eine zeitlich angepasste Prophylaxe, beispielweise durch gezielte Gabe von CGRP-Antikörpern, könnte bei Patienten mit ausgeprägten zyklischen Mustern wirksam sein.

Weitere Studien notwendig

Weitere Forschung ist notwendig, um interindividuelle Unterschiede zu charakterisieren, die Übertragbarkeit auf chronische Migräne zu prüfen und pathophysiologische Mechanismen besser zu verstehen. Folgestudien sind auch vor dem Hintergrund der geringen Teilnehmerzahl und der kurzen Beobachtungsdauer dringend nötig.

Studienergebnisse könnten zukünftige Vorhersagemodell unterstützen

Die Ergebnisse dieser prospektiven Studie zur Assoziation von Migräneattacken mit den Mondphasen legen nahe, dass Migräne nicht nur zirkadianen, sondern auch zirkalunaren Rhythmen folgt. Die Identifikation solcher Muster könnte langfristig helfen, Vorhersagemodelle zu verbessern und präventive Therapien präziser zu steuern.

Tattoos und Melanomrisiko – eine unerwartete Beziehung

Tattoos gelten wegen ihrer Inhaltsstoffe oft als potenziell krebserregend. Doch eine große Studie aus Utah zeigt: Mehr Tattoos könnten mit einem geringeren Melanomrisiko einhergehen. Welche biologischen und verhaltensbezogenen Faktoren dahinterstehen, überrascht selbst Experten.

Tätowierungen sind heute allgegenwärtig: Fast ein Drittel aller Erwachsenen in den USA trägt mindestens eine. Mit den Farben gelangen jedoch potenziell krebserregende Stoffe wie Metalle, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe und aromatische Amine in die Haut. Diese Substanzen können sich in Lymphknoten anreichern und photochemisch toxische Verbindungen bilden. Lange wurde daher vermutet, dass Tattoos das Melanomrisiko erhöhen – doch systematische epidemiologische Untersuchungen fehlten bislang nahezu vollständig.

Studiendesign und Datengrundlage

Eine Forschergruppe der University of Utah führte erstmals eine bevölkerungsbasierte Fall-Kontroll-Studie zu Tattoos und Melanominzidenz durch. Eingeschlossen waren 1.167 Melanomfälle und 5.835 demografisch angepasste Kontrollen aus dem Utah Behavioral Risk Factor Surveillance System. Die Teilnehmenden beantworteten standardisierte Fragen zur Zahl und Größe ihrer Tattoos sowie zum Alter bei der ersten Tätowierung. Utah wurde bewusst gewählt, da der Bundesstaat die höchste Melanominzidenz der USA aufweist und sich die Tätowierungsprävalenz zwischen den Geschlechtern deutlich unterscheidet.

Überraschend: Mehr Tattoos, geringeres Risiko

Die Ergebnisse widersprachen gängigen Annahmen: Personen mit vier oder mehr Tattoo-Sitzungen oder mindestens drei großen Tattoos hatten ein signifikant niedrigeres Risiko für invasives und in-situ-Melanom als Nicht-Tätowierte. Ein einziges Tattoo hingegen war mit einem leicht erhöhten Risiko assoziiert, insbesondere bei Frauen. Männer profitierten stärker von mehreren Tattoos als Frauen, während frühe Tätowierungen vor dem 20. Lebensjahr bei beiden Geschlechtern tendenziell schützend wirkten. Eine Lokalisation der Tumoren direkt in tätowierten Arealen fand sich kaum.

Mögliche biologische Mechanismen

Die Autorinnen und Autoren vermuten, dass immunologische Faktoren eine Rolle spielen könnten. Tätowierungen lösen lokale Entzündungsreaktionen aus, die möglicherweise eine verbesserte Immunüberwachung präkanzeröser Zellen bewirken. Alternativ könnte dunkle Tätowierfarbe UV-Strahlung absorbieren und somit die karzinogene Belastung der Haut senken. Tierexperimente stützen diese Hypothese: Schwarze Tinte reduzierte bei Mäusen die UV-induzierte Tumorentwicklung.

Einfluss von Lebensstil und Sonnenexposition

Gleichzeitig wiesen tätowierte Melanompatienten häufiger riskante UV-Verhaltensweisen auf, etwa häufige Nutzung von Solarien oder Sonnenbrände. Frühere Studien zeigten allerdings, dass stark tätowierte Personen auch konsequenter Sonnenschutzmittel mit höherem Lichtschutzfaktor verwenden. Diese widersprüchlichen Verhaltensmuster könnten die beobachteten Assoziationen beeinflusst haben, lassen sich jedoch aufgrund fehlender Kontrollvariablen nicht abschließend bewerten. Unbekannte Einflussgrößen wie genetische Prädisposition, Hauttyp oder familiäre Vorbelastung blieben in der Studie unberücksichtigt.

Bedeutung und Ausblick

Ob Tattoos tatsächlich einen schützenden Effekt gegenüber Melanomen entfalten, bleibt offen – doch die Daten stellen bisherige Annahmen infrage. Ungeachtet methodischer Limitationen wie fehlender Kontrollvariablen liefert die Studie erstmals robuste populationsbasierte Hinweise auf komplexe Zusammenhänge zwischen Tätowierungen, Immunsystem und UV-Exposition. Künftige Forschungen sollten detaillierte Daten zu Sonnenverhalten, Pigmentdichte und Tattoo-Lokalisation erfassen, um die biologischen Mechanismen zu entschlüsseln. Fest steht: Tattoos sind längst nicht nur ein kulturelles Phänomen, sondern möglicherweise ein unerwarteter Schlüssel in der Hautkrebsforschung.

Herzinfarkt: Eine Infektionskrankheit?

Eine bahnbrechende Studie von Forschern aus Finnland und Großbritannien hat zum ersten Mal gezeigt, dass es sich bei einem Myokardinfarkt um eine Infektionskrankheit handeln kann. Diese Entdeckung stellt das konventionelle Verständnis der Pathogenese des Myokardinfarkts in Frage und eröffnet neue Wege für die Behandlung, Diagnostik und sogar die Entwicklung von Impfstoffen.

Laut der kürzlich veröffentlichten Studie kann eine Infektion einen Myokardinfarkt auslösen. Unter Verwendung einer Reihe fortschrittlicher Methoden fand die Forschung heraus, dass atherosklerotische Plaques, die Cholesterin enthalten, bei koronarer Herzkrankheit einen gallertartigen, asymptomatischen Biofilm beherbergen können, der von Bakterien über Jahre oder sogar Jahrzehnte gebildet wird. Schlafende Bakterien innerhalb des Biofilms bleiben sowohl vor dem Immunsystem des Patienten als auch vor Antibiotika abgeschirmt, da sie die Biofilmmatrix nicht durchdringen können.

Eine Virusinfektion oder ein anderer äußerer Auslöser kann den Biofilm aktivieren, was zur Vermehrung von Bakterien und einer Entzündungsreaktion führt. Die Entzündung kann einen Riss in der fibrösen Kappe der Plaque verursachen, was zur Thrombusbildung und schließlich zum Myokardinfarkt führt.

Professor Pekka Karhunen, der die Studie leitete, merkt an, dass man bisher davon ausging, dass Ereignisse, die zu einer koronaren Herzkrankheit führen, nur durch oxidiertes Low-Density-Lipoprotein (LDL) ausgelöst werden, das der Körper als Fremdstruktur erkennt.

„Eine bakterielle Beteiligung an der koronaren Herzkrankheit wurde seit langem vermutet, aber direkte und überzeugende Beweise fehlten. Unsere Studie zeigte das Vorhandensein von genetischem Material – DNA – von mehreren Mundbakterien in atherosklerotischen Plaques“, erklärt Karhunen.

Die Ergebnisse wurden durch die Entwicklung eines Antikörpers validiert, der auf die entdeckten Bakterien abzielte und unerwartet Biofilmstrukturen im arteriellen Gewebe aufdeckte. Bakterien, die aus dem Biofilm freigesetzt wurden, wurden bei Myokardinfarkten beobachtet. Das körpereigene Immunsystem hatte auf diese Bakterien reagiert und eine Entzündung ausgelöst, die die cholesterinbeladene Plaque aufriss.

Die Beobachtungen ebnen den Weg für die Entwicklung neuartiger diagnostischer und therapeutischer Strategien für den Myokardinfarkt. Darüber hinaus fördern sie die Möglichkeit, die koronare Herzkrankheit und den Myokardinfarkt durch Impfungen zu verhindern.

Die Studie wurde von den Universitäten Tampere und Oulu, dem Finnish Institute for Health and Welfare und der University of Oxford durchgeführt. Es wurden Gewebeproben von Personen entnommen, die am plötzlichen Herztod gestorben waren, sowie von Patienten mit Arteriosklerose, die sich einer Operation zur Reinigung der Halsschlagader und der peripheren Arterien unterzogen.

Die Forschung ist Teil eines umfangreichen, von der EU finanzierten kardiovaskulären Forschungsprojekts, an dem 11 Länder beteiligt sind. Bedeutende Finanzmittel wurden auch von der finnischen Stiftung für kardiovaskuläre Forschung und der Jane and Aatos Erkko Foundation bereitgestellt.

Der Forschungsartikel Viridans Streptococcal Biofilm Evades Immune Detection and Contribute to Inflammation and Rupture of Atherosclerotic Plaques wurde am 6. August 2025 im Journal of the American Heart Association veröffentlicht.

Darmkrebsprävention durch Magnesium: Rolle von Vitamin-D-synthetisierenden Bakterien

Magnesium steigert die Abundanz von Carnobacterium maltaromaticum und Faecalibacterium prausnitzii – Darmbakterien, die lokal Vitamin D synthetisieren und so zur Prävention des Kolorektalkarzinoms beitragen können.

Das Kolorektalkarzinom zählt weltweit zu den häufigsten malignen Tumoren. Laut internationalen Registerdaten gehört es sowohl bei der Inzidenz als auch bei der Mortalität zu den führenden Krebserkrankungen. Neben etablierten Risikofaktoren wie Ernährung, Lebensstil und genetischer Prädisposition rückt zunehmend das intestinale Mikrobiom als modulierender Faktor in den Fokus. Insbesondere mikrobiologische Mechanismen, die mit Vitamin-D-Stoffwechselwegen verknüpft sind, werden intensiv erforscht.

Zusammenspiel von Darmbakterien, Magnesium und Genetik im Fokus

Präklinische Arbeiten zeigen, dass Carnobacterium maltaromaticum und Faecalibacterium prausnitzii Vorstufen von Vitamin D im Darm in aktive Metaboliten umwandeln und so die kolorektale Karzinogenese hemmen können. Parallel wurde beobachtet, dass Magnesiumspiegel den Vitamin-D-Stoffwechsel beeinflussen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das TRPM7-Gen, das den Magnesiumhaushalt reguliert. Vor diesem Hintergrund entstand die Hypothese, dass Magnesium das intestinale Mikrobiom in einer Weise moduliert, die das Risiko für kolorektale Neoplasien beeinflusst.

Präzisionsbasierte RCT untersucht Einfluss von Magnesium auf das Mikrobiom

Die Personalized Prevention of Colorectal Cancer Trial (NCT04229992) wurde als doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Studie konzipiert und im ‚The American Journal of Clinical Nutrition‘ (AJCN) veröffentlicht. Insgesamt nahmen 240 Probanden mit anamnestisch bekannten Kolonpolypen teil. Die Randomisierung erfolgte unter Berücksichtigung des TRPM7-Genotyps. Analysiert wurden Stuhlproben, Rektalabstriche und Biopsien der Rektalschleimhaut. Primärer Endpunkt war die Veränderung der bakteriellen Zusammensetzung, insbesondere der Abundanz von C. maltaromaticum und F. prausnitzii.

TRPM7-Genotyp bestimmt Effekte auf Vitamin-D-synthetisierende Bakterien

Von 239 Auswertungen lagen bei 226 Mikrobiomdaten vor (n = 112 Intervention, n = 114 Placebo).

  • Bei Probanden ohne TRPM7-Missense-Variante führte Magnesium zur Zunahme von C. maltaromaticum (p = 0,006) und F. prausnitzii (p = 0,04) in Rektalabstrichen. Für C. maltaromaticum blieb das Ergebnis auch nach Korrektur multipler Vergleiche signifikant.
  • Bei Trägern der TRPM7-Missense-Variante zeigte sich hingegen eine signifikante Reduktion von C. maltaromaticum (adjustiertes p = 0,04), während F. prausnitzii unbeeinflusst blieb.
  • Der Effekt war vorrangig bei weiblichen Teilnehmern nachweisbar.

Erhöhte F. prausnitzii-Abundanz steigert, C. maltaromaticum senkt Polypenrisiko

In einer Subkohorte von 124 Teilnehmern wurden nach einer medianen Nachbeobachtung von 3,5 Jahren Koloskopien durchgeführt. Dabei zeigte sich:

  • Eine höhere Abundanz von F. prausnitzii in der Rektalschleimhaut war mit einem nahezu dreifach erhöhten Risiko für metachrone Polypen assoziiert.
  • Eine erhöhte Abundanz von C. maltaromaticum in Rektalabstrichen stand in Zusammenhang mit einem tendenziell reduzierten Risiko für serratierte Polypen.

Deutlich stärkere Effekte bei Frauen

Die stärksten Effekte wurden in der weiblichen Subgruppe beobachtet. Die Zunahme der relevanten Bakterienarten zeigte sich nahezu ausschließlich bei weiblichen Probanden. Als mögliche Erklärung verweisen die Studienautoren auf die Rolle von Östrogen bei der intrazellulären Magnesiumverteilung.

Fazit: Magnesium moduliert Mikrobiom und stärkt Ansatz zur Prävention des Kolorektalkarzinoms

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Magnesium das intestinale Mikrobiom abhängig vom TRPM7-Genotyp und Geschlecht beeinflusst. Besonders C. maltaromaticum und F. prausnitzii, die in präklinischen Modellen mit lokaler Vitamin-D-Synthese und Hemmung der kolorektalen Karzinogenese assoziiert sind, wurden unter Magnesiumgabe vermehrt nachgewiesen.

Damit liefert die Studie wichtige Einblicke in das Zusammenspiel von Mikronährstoffstatus, Mikrobiom und Kolorektalkarzinom und schafft eine Grundlage für präzisionsbasierte Präventionsansätze.

Quelle:
  1. Sun, E. et al. (2025): Magnesium treatment increases gut microbiome synthesizing vitamin D and inhibiting colorectal cancer: Results from a double-blind precision-based randomized placebo-controlled trial. The American Journal of Clinical Nutrition, DOI: 10.1016/j.ajcnut.2025.09.011.
  2. Vanderbilt University Medical Center, News, 12. September 2025.

So krallen sich Staphylokokken auf der menschlichen Haut fest

Es soll die „stärkste jemals nachgewiesene natürliche Proteinbindung“ sein, „stärker als Superkleber“ und „in der Natur nahezu unübertroffen“: Wie die Auburn University (Alabama) in der vergangenen Woche mitteilte, haben Physiker der Uni gemeinsam mit Partnern in Belgien und Großbritannien herausgefunden, warum sich Staphylokokken so hartnäckig an der menschlichen Haut festsetzen können. Die Entdeckung eröffne nun neue Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Infektionen.

Im Mittelpunkt der nun im Magazin „Science Advances“ veröffentlichten Studie steht ein bakterielles Protein namens SdrD. Staphylokokken sollen es wie einen Enterhaken verwenden, um sich an das menschliche Protein Desmoglein-1 zu binden (siehe: Grafik). „Es ist die stärkste nicht-kovalente Protein-Protein-Bindung, die jemals beschrieben wurde“, wird Rafael Bernardi, Associate Professor für Physik an der Auburn University und einer der leitenden Autoren, zitiert. „Das macht Staphylokokken so hartnäckig und hilft uns zu verstehen, warum diese Infektionen so schwer zu bekämpfen sind.“ Die beschriebene Bindung sei einzigartig und erkläre, warum Staphylokokken auch nach Kratzen, Waschen oder Schwitzen an der Haut haften bleiben.

Kalzium stärkt die Bindung

Die Studie ergab auch, dass Kalzium, ein Element, das eher für die Stärkung der Knochen bekannt ist, das bakteriellen Haftvermögen stärken kann: Als der Kalziumspiegel in Laborversuchen gesenkt wurde, schwächte sich die Bindung zwischen SdrD und Desmoglein-1 deutlich ab. Als Kalzium wieder hinzugefügt wurde, festigte sich die Bindung.

Relevant für Patienten mit Ekzemen

Diese Erkenntnis ist den Forschenden zufolge besonders relevant für Patienten mit Ekzemen, bei denen das Kalziumgleichgewicht in der Haut gestört ist. Anstatt die Haut zu schützen, könnten diese unregelmäßigen Werte den Halt der Staphylokokken sogar noch verstärken. „Wir waren überrascht, wie sehr Kalzium zur Stärke dieser Wechselwirkung beiträgt“, erklärt Mitautorin Priscila Gomes (Fachbereich Physik, Auburn University). „Es stabilisierte nicht nur das bakterielle Protein, sondern machte den gesamten Komplex auch viel widerstandsfähiger gegen Zerbrechen.“

Methodik: atomares Kräftemessen

Um diese Details aufzudecken, kombinierte das Team den Angaben zufolge „Einzelmolekülexperimente mit fortschrittlichen Computersimulationen“: Mithilfe der Rasterkraftmikroskopie („atomic force microscopy“) wurde beispielsweise die Kraft gemessen, mit der sich ein einzelnes Staphylokokkenbakterium an die menschlichen Hautproteine bindet. Die Wechselwirkung zwischen den Atomen wurde zudem auf Supercomputern simuliert. Beide Ansätze seien dann zu dem gleichen „bemerkenswerten Ergebnis“ gekommen: „Der Griff von SdrD an Desmoglein-1 ist stärker als jede andere in der Biologie bekannte Proteinbindung.

Fazit: neue Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Infektionen

Diese Entdeckung eröffnet nach Ansicht der Autoren neue Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Infektionen: Anstatt zu versuchen, Bakterien direkt abzutöten, was oft zur Entwicklung von Resistenzen führt, könnten Wissenschaftler in Zukunft Mittel entwickeln, die die Adhäsion von Bakterien blockieren oder schwächen. „Indem wir auf die Adhäsion abzielen, suchen wir nach einem völlig anderen Weg, bakterielle Infektionen zu bekämpfen“, sagt Bernardi. „Wir versuchen nicht, die Bakterien zu zerstören, sondern sie daran zu hindern, sich überhaupt anzuheften.“

Originalpublikation:

Constance Chantraine et al. Ultrastrong Staphylococcus aureus adhesion to human skin: Calcium as a key regulator of noncovalent interactions.Sci. Adv.11, eadu7457(2025). DOI:10.1126/sciadv.adu7457

Herzgesundheit am (zahn)seidenen Faden

Könnte die regelmäßige Verwendung von Zahnseide das Risiko für Schlaganfälle und Vorhofflimmern senken? Warum Mundhygiene Herzenssache ist, lest ihr hier

Sobald der Begriff „Gesundheitsvorsorge“ fällt, denken viele an ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung oder den Verzicht auf Rauchen. Weit weniger Menschen berücksichtigen, dass auch die Mundhygiene ein wichtiger Faktor sein kann, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen vorzubeugen. Bisher war vor allem das Zähneputzen Thema in der Forschung, doch nun rückt ein anderer Aspekt in den Fokus: die Verwendung von Zahnseide.

Im Rahmen der International Stroke Conference 2025 der American Stroke Association wurde eine Studie vorgestellt, die diesen Zusammenhang genauer unter die Lupe nimmt: Menschen, die mindestens einmal wöchentlich Zahnseide benutzen, haben ein geringeres Risiko für ischämische Schlaganfälle und für Herzrhythmusstörungen wie das Vorhofflimmern.

Gesund beginnt im Mund

Mundhygiene wird oft als reines kosmetisches Anliegen oder als Schutz vor Karies betrachtet – doch die Assoziation von Zahnfleischerkrankungen wie Parodontitis mit systemischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden besteht schon länger. Ein möglicher Grund ist, dass bakterielle Entzündungen im Mund die Produktion von Entzündungsstoffen im Blut ankurbeln, die wiederum zu Arteriosklerose oder anderen kardiovaskulären Risiken beitragen können.

Die globale Bedeutung dieses Themas wird in Zahlen deutlich: Ein Bericht der WHO stellte 2022 fest, dass 3,5 Milliarden Menschen weltweit an unbehandeltem Zahnverfall und Zahnfleischerkrankungen leiden – das sind einige der am weitesten verbreiteten Gesundheitsprobleme überhaupt.

Stabile Datengrundlage

Die im Rahmen der Konferenz vorgestellten Ergebnisse stammen aus der bekannten Atherosclerosis Risk in Communities (ARIC)-Studie, einer großen, langjährigen Untersuchung zu Atherosklerose-Risikofaktoren in den USA. Die ARIC-Studie startete 1987 und umfasst mittlerweile mehrere Jahrzehnte an Daten.
Für die aktuelle Auswertung wurden über 6.000 Menschen befragt, die Auskunft über ihre Gewohnheiten in Bezug auf Zahnseide, Zähneputzen und Zahnarztbesuche gaben. Die Forscher um Studienleiter Souvik Sen verfolgten über 25 Jahre die Entwicklung von Schlaganfällen und Vorhofflimmern. Zudem wurden weitere klassische Herz-Kreislauf-Risikofaktoren – darunter Blutdruck, DiabetesCholesterinwerte, Raucherstatus, körperliche Aktivität sowie das Bildungsniveau – erhoben.

Zahlen, bitte

Während der 25-jährigen Nachbeobachtung trat bei 434 Personen ein Schlaganfall auf. Von diesen Schlaganfällen waren:

  • 147 durch größere Arteriengerinnsel bedingt (sogenannte große-arterielle Schlaganfälle),
  • 97 von Herz-bedingten Blutgerinnsel (kardioembolische Schlaganfälle) verursacht,
  • 95 auf kleinere Gefäße zurückzuführen (lakunäre Schlaganfälle).

Außerdem wurden 1.291 Fälle von Vorhofflimmern registriert.

Die regelmäßige Benutzung von Zahnseide (≥ 1-mal pro Woche) ging mit einer 22 %igen Risikoreduktion für ischämische Schlaganfälle einher. Auch das Risiko für einen kardioembolischen Schlaganfall war um 44 % verringert, das Risiko für Vorhofflimmern um 12 %.

Unabhängig vom Zahnarzt

Besonders hervorzuheben ist, dass dieser Effekt unabhängig von anderen Faktoren wie regelmäßigem Zähneputzen oder Zahnarztbesuchen war. Mit anderen Worten: Selbst wenn jemand häufig putzt oder den Zahnarzt aufsucht, scheint die Zahnseide eine zusätzliche positive Wirkung zu haben.

Die Forscher vermuten, dass die Reduzierung von Bakterien im Zahnzwischenraum und am Zahnfleischrand eine Rolle spielt – gerade hier können sich krankheitsverursachende Keime und Plaque ansammeln, die zu lokalen Entzündungen führen und systemische Entzündungsmarker erhöhen können. Laut Studienleiter Souvik Sen gebe es deutliche Hinweise darauf, dass eine verminderte Entzündungsbelastung das Arteriosklerose-Risiko senken und so Schlaganfällen vorbeugen könnte.

Ein unerwarteter Befund

Besonders überraschend war die Assoziation zwischen Zahnseide und dem Risiko für Vorhofflimmern – es stellt einen Hauptrisikofaktor für Schlaganfälle dar. Laut der American Heart Association könnte die Zahl der Betroffenen mit Vorhofflimmern in den USA bis 2030 auf über 12 Millionen steigen. Die aktuellen Daten legen nahe, dass eine gute Mundhygiene – insbesondere das regelmäßige Verwenden von Zahnseide – möglicherweise einen zusätzlichen Schutz bietet. Allerdings ist nicht abschließend geklärt, ob dieser Effekt direkt durch eine reduzierte Entzündung oder indirekt durch einen gesünderen Lebensstil – Menschen, die auf gute Mundpflege achten, achten oft auch auf andere Gesundheitsaspekte – zustande kommt.

Mit Zahnseide gesünder leben?

Trotz der Vorläufigkeit ist die Botschaft deutlich: Zahnseide ist kostengünstig, leicht anzuwenden und überall erhältlich. Anders als bei teuren Zahnbehandlungen und Prothesen kann diese einfache Methode einen großen Teil der Bevölkerung erreichen. Zusammen mit regelmäßigen Zahnarztbesuchen, ausreichendem Zähneputzen und einer allgemein gesunden Lebensweise könnte dies ein weiterer Mosaikstein sein, um das Schlaganfall- und Herzrisiko zu senken.

„Mundgesundheit könnte möglicherweise in die ,Life’s Essential 8‘-Risikofaktoren aufgenommen werden.“, kommentierte Professor Daniel T. Lackland von der Medical University of South Carolina. Gemeint sind damit die bereits etablierten Herz-Kreislauf-Risikofaktoren (Ernährung, Bewegung, Blutdruck, Blutzucker, Cholesterin, Nikotinexposition, Schlaf und Körpergewicht). Ob Zahnseide hier bald als neunter Faktor hinzukommt, wird zukünftige Forschung zeigen.

Fazit

Die Studie aus den USA lässt hoffen: Eine vermeintlich banale Maßnahme wie das wöchentliche Benutzen von Zahnseide könnte das Risiko für bestimmte Schlaganfälle sowie Vorhofflimmern reduzieren. Zwar stehen weiterführende Untersuchungen an – dennoch lohnt es, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn selbst wenn sich nur ein Teil dieses Effekts bestätigt, kann die regelmäßige Verwendung von Zahnseide einen wichtigen Beitrag zur Herz-Kreislauf-Gesundheit leisten. Die Ergebnisse liefern zudem einen weiteren Anreiz, die eigene Mundhygiene-Routine zu überdenken und Zahnseide konsequent in den Alltag zu integrieren.

Zusammenfassung für Eilige:

  • Regelmäßig Zahnseide, geringeres Schlaganfallrisiko: Eine vorläufige Studie legt nahe, dass die wöchentliche Verwendung von Zahnseide das Risiko für ischämische Schlaganfälle um 22 % und für kardioembolische Schlaganfälle sogar um 44 % senken könnte.
  • Zusammenhang mit Vorhofflimmern: Auch die Gefahr, ein Vorhofflimmern zu entwickeln, war um 12 % geringer – unabhängig von anderen Mundhygiene-Gewohnheiten wie Zähneputzen oder Zahnarztbesuchen.
  • Mundgesundheit als Teil der Prävention: Obwohl noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet, stützen die Ergebnisse die These, dass eine gute Mundpflege – inklusive Zahnseide – ein wichtiger Baustein für die Herz-Kreislauf-Gesundheit sein kann.

Quelle:

Sen, Souvik et. al. Regular dental flossing may lower risk of stroke from blood clots, irregular heartbeats. American Heart Association, 2025.

 

Machen Süßstoffe Lust auf mehr?

Süßen ohne Kalorien? Verlockend! Doch die Warnungen vor Süßstoffen reißen nicht ab. Denn Saccharin & Co. beeinflussen nicht nur Metabolismus und Herzgesundheit – sie wirken auch im Gehirn.

Die Lust auf Süßes wird uns in Form der Muttermilch in die Wiege gelegt. Evolutionsbiologen attestieren dem süßen Geschmack den Zweck, unsere Urahnen vom Verzehr bitterschmeckender Toxine abgehalten zu haben. Die mit hohem Zuckerkonsum verbundenen gesundheitlichen Risiken beschäftigten die Wissenschaft schon vor 150 Jahren. 1878 entdeckte der Chemiker Constantin Fahlberg eher zufällig, quasi als analytisches Nebenprodukt, den ersten künstlichen Süßstoff – das Saccharin. Man glaubte, die bereits damals vom Zucker verursachten „gewichtigen“ und dentalen Probleme damit in den Griff zu bekommen. Primär waren es aber wirtschaftliche Gründe, die Saccharin – wegen seiner preisgünstigen Herstellung auch „Zucker der Armen“ genannt – zum Aufstieg verhalfen.

Mit dem Anwachsen von Wohlstand, Wohlstandsbäuchen und der Diabetesprävalenz seit den 1950er Jahren gewann der Kalorien-Spareffekt zunehmend an Bedeutung, was in der Entwicklung einer Flut von Süßstoffen mit teils extremer Süßkraft mündete. Fast ebenso lang währt die Diskussion um gewichtsreduzierenden Nutzen und mögliche pathogene Wirkungen, die in den letzten Jahren durch eine Vielzahl von Studien intensiviert wurde. Das Spektrum der Verdächtigen reicht vom Darmmikrobiom (hier) über Diabetesrisiko (hier) und Gefäßschäden (hier) bis hin zu Krebsrisiken (hier und hier).
In einer Ende März 2025 in Nature Metabolism publizierten Studie nimmt eine kalifornische Arbeitsgruppe eine vermeintliche Süßstoffwirkung wieder in den Blick, die zu Beginn der „Süßstoffrevolution“ die Kritikwelle begründete.

„Männer sind Schweine…“

Etwa zur gleichen Zeit als Die Ärzte diesen Ohrwurm erstmalig (in eher charakterlichem Sinne) intonierten, war eine Erklärung für ausbleibende Erfolge abnehmwilliger Süßstoffkonsumenten omnipräsent. Mit dem Verweis auf Süßstoffzusatz zum Schweinefutter zur Beschleunigung der Masterfolge wurde dem Süßstoffkonsum eine appetitanregende Wirkung zugeschrieben, die stillschweigend auf humane Konsumenten transferiert wurde – und zwar auf beide Geschlechter. Der süße Geschmack würde dem Nervus vagus eine Zuckeraufnahme vortäuschen, die via Insulinausschüttung das Verlangen nach mehr initiieren und im Endeffekt in höherer Energieaufnahme münden würde.

Eine Protestwelle von Süßstoffproduzenten, die das Fehlen belastbaren Studiendaten monierten und Schweinezüchtern, die Süßstofffütterungen negierten, ließ den Aufschrei um die potenziell Süßstoff-vermittelte Appetitanregung in der öffentlichen Wahrnehmung abklingen, in Fachkreisen aber nie verstummen. Dennoch sind Studien zu dem Thema rar.

Eine 2011 publizierte Arbeit konnte aus In-Vitro-Analysen vorliegende Befunde, wonach Süßstoffe in ähnlicher Weise wie Zucker (GlukoseFruktose) die Sekretion der gastrointestinaler Sättigungs-/Hungerhormone GLP-1Ghrelin und Peptid YY und damit das Nahrungsverlangen beeinflussen, in einer In-Vivo-Studie mit doppelt verblindetem, placebokontrollierten Crossover-Design nicht reproduzieren. Der Süßstoffkonsum hatte hier im Gegensatz zum echten Zucker keinen messbaren Effekt auf die Sekretion der drei Peptide und entfaltete weder eine sättigende noch eine appetitanregende Wirkung.

Eine Übersichtsarbeit aus 2022 schließt mit dem Resümee, dass die Süßstoffwirkung auf die Appetitregulation und die Wahrnehmung von Süßem unklar bleibt. Der überwiegende Teil der vorliegenden Studien liefere aber keine belastbaren Belege, dass der Konsum von Süßstoff das Verlangen nach Süßem befeuere und zu höherer Energieaufnahme und Körpergewichtszunahme führe. Zur Beurteilung langfristiger Auswirkungen eines regelmäßigen Süßstoffverzehrs auf die Gewichtsentwicklung reiche der bis dato verfügbare Studienpool nicht aus. Einen Beitrag zur Schließung dieser Datenlücke wollten nun Neurowissenschaftler der University of Southern California/Los Angeles unter Mitwirkung der Universität Tübingen leisten.

Hypothalamus im Visier

Nach heutigem Kenntnisstand nimmt der Hypothalamus unter dem Einfluss gastrointestinaler Hormone wie Ghrelin und GLP-1 sowie Adipokinen wie Leptin eine zentrale Rolle bei der Steuerung von Hunger und Sättigung ein (hier und hier). Dabei scheinen besonders der Nucleus arcuatus und der laterale Hypothalamus in die Appetitregulation verwickelt zu sein.

Koordinierte funktionelle Kooperationen zwischen Hypothalamus und anderen Hirnarealen übernehmen nach den Ergebnissen kernspintomografischer Analysen die Einstellung der Homöostase im Energiehaushalt (hier und hier). Ausgangpunkt für die aktuelle Studie waren eine Reihe früherer Arbeiten, die mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gezeigt haben, dass der Konsum von Einfachzuckern wie Glukose die Aktivierung des Hypothalamus hemmt und den zerebralen Blutfluss reduziert. Die Verringerung der Hypothalamusaktivität nach Aufnahme von Zuckerenergie war in diesen Arbeiten mit einer Abnahme des Hungergefühls assoziiert.

Nach Aufnahme kalorienfreier Süßstoffe hingegen zeigten die fMRT-Scans keine vergleichbare, einen Sättigungseffekt anzeigende Reduktion der Hypothalamusaktivität (hier und hier). Demzufolge wäre der süße Geschmack allein kein unabhängiger Effektor für die Appetitregulation, da die Kopplung der Süß-Empfindung an eine Energieaufnahme eine andere hypothalamische Reaktion auslöst als ohne Kalorienzufuhr. Die aufgrund kleiner Probandenzahlen sowie mangelnder Diversität bezüglich Körpergewicht, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit beschränkte Aussagekraft dieser Arbeiten inspirierte die kalifornischen Neurowissenschaftler zu einer hypothalamischen Analyse an einer nach Body Mass Index (BMI) und Geschlecht stratifizierten Kohorte.

Wie reagiert der Hypothalamus auf Süßstoff?

Primärziel der Studie war es, in Abhängigkeit von BMI und Geschlecht eventuelle Unterschiede in der hypothalamischen Aktivität nach dem Verzehr des kalorienfreien Süßstoffs Sucralose im Vergleich zu Saccharose sowie reinem Wasser aufzudecken. Die übergeordnete Fragestellung lautete demnach: Bewirkt Sucralose im Gegensatz zu Zucker eine Steigerung der hypothalamische Aktivität (gemessen am Blutfluss) mit der Folge verstärkten Hungerempfindens resp. ausbleibenden Sättigungsgefühls? Spielen für den Grad dieser Einflussnahme Körpergewicht/BMI und Geschlecht eine Rolle?

Die Studienkohorte umfasste 85 Erwachsene im Alter von 18 bis 35 Jahren, von denen 75 (♀: 43) die Studie beendeten. Die Teilnehmer wurden in drei BMI-Klassen aufgeteilt (37 % gesundes Gewicht, 32 % übergewichtig, 31 % adipös). Für jeden Patienten erfolgten Messungen (MRT, Blutanalyse) nach dem Konsum von 300 ml einer Saccharose-Lösung, 300 ml einer auf gleiche Süße kalibrierten Sucralose-Lösung sowie von 300 ml Wasser (Kontrolle) mit hinreichend langen Auswaschphasen (Cross-Over-Design). Zweierpaarungen in allen Kombinationen (Sacharose vs. Sucralose, Saccharose vs. Wasser, Sucralose vs. Wasser) dienten dem direkten Abgleich der einzelnen Getränkewirkungen. Die Messzeitpunkte für jedes Getränk lagen bei 0 (Basiswert vor dem Trinken) sowie 2, 10, 35 und 120 Minuten nach dem Trinken.

Zentralnervöse Befunde

Ausgehend von gleichen hypothalamischen Ausgangsblutflüssen zeigten die MRT-Scans nach dem Konsum der drei Testgetränke signifikant (p-Wert < 0,007) unterschiedliche Veränderungen des hypothalamischen Blutflusses: Der kalorienfreie Süßstoff Sucralose induzierte speziell im lateralen Hypothalamus eine verstärkte, Hunger indizierende Blutstromerhöhung im Vergleich zu Saccharose und Wasser, die in beiden Abgleichen mit p-Werten von < 0,018 bzw. < 0,019 signifikant war, sich im zeitlichen Verlauf aber nicht veränderte. Im medialen Hypothalamus sowie der sogenannte Neudorfer-Region (einem weiteren im Rahmen der Appetitregulation interessierenden Hypothalamusbereich) zeigten die Süßstoff-Scans nur gegenüber der Wasserkontrolle eine signifikant höhere Steigerung des Blutflusses, nicht aber gegenüber dem Zucker.

Ist die Hypothalamus-Reaktion BMI- und geschlechtsabhängig?

Bei der Stratifizierung nach BMI zeigte sich insgesamt eine positive Korrelation zwischen Leibesfülle und Stärke der lateralen hypothalamischen Antwort (Blutstromzunahme). Mit anderen Worten: Je höher der BMI liegt, umso stärker wird der Appetit durch ein Getränk angeregt. In der adipösen Subkohorte war der Süßstoffkonsum mit einer besonders starken Blutstromsteigerung (Hunger) im lateralen Hypothalamus verbunden, allerdings nur im Vergleich mit dem Trinken von Wasser. In der vergleichenden Wirkung von Sucralose und Saccharose zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Süßstoff und Zucker stimulierten die Hypothalamusaktivität (Appetitanregung) also ähnlich stark.

Anders lagen die Verhältnisse bei den Probanden mit gesundem BMI: Bei ihnen löste der Süßstoff im Vergleich zum Zucker, nicht aber im Abgleich mit Wasser, eine besonders starke Aktivität/Blutflusszunahme im lateralen Hypothalamus aus. Die Zuckeraufnahme hatte hier eine niedrigere lateral-hypothalamische Antwort (höheres Sättigungsgefühl) zu Folge als das Trinken von Wasser. In der Übergewichtigen-Gruppe zeigte der Vergleich der hypothalamischen Antworten auf Wasser, Saccharose und Sucralose keine signifikanten Unterschiede auf. Der laterale Hypothalamus der Übergewichtigen reagierte auf alle drei Getränke ähnlich (un)sensibel.

In den beiden anderen analysierten Hypothalamusregionen (mediale und Neudorfer Region) zeigten sich einzig bei den Probanden mit gesundem BMI unterschiedliche Antworten auf Sucralose und Saccharose. Bei den funktionalen Verbindungen zu anderen Hirnarealen detektierten die kalifornischen Neurologen Veränderungen, die nach Konsum von Süßstoff und Zucker teils sehr unterschiedlich ausfielen und zudem BMI-abhängig differierten. Welche Bedeutung diesen unterschiedlichen Verknüpfungsmustern für die Appetitregulation zukommt, bleibt vorerst ungeklärt.

Der herausstechende Befund beim Geschlechtervergleich war eine signifikant höhere Süßstoffempfindlichkeit von Frauen. Im Vergleich zu den Männern reagierte der weibliche laterale Hypothalamus auf Sucralose sowohl im Abgleich mit Saccharose als auch mit Wasser mit deutlich stärkerer Blutstromzunahme.

Blutzuckerveränderung mit Höhenwirkung

Nach dem Süßstoffkonsum erfolgende Messungen der Blutzucker- und Insulinspiegel sowie deren Assoziationen zum hypothalamischen Blutfluss sind besonders im Kontext Glukosetoleranz-Störungen infolge von Mikrobiomveränderungen von Interesse (hier und hier). In der aktuellen Studie führte einzig der Zuckerkonsum zu einem deutlichen Anstieg der Blutglukose- und Insulinspiegel, die beide 35 Minuten nach dem Verzehr den Maximalwert erreichten. Bei Normal- und Übergewichtigen, nicht aber bei den Adipösen, war dieser Anstieg mit reduziertem hypothalamischen Blutfluss (Sättigung) verbunden. Nach Süßstoffkonsum blieben all diese Wirkungen aus. Selbstauskünfte zur empfundenen Hungerintensität ergaben über die Gesamtkohorte hinweg das Bild einer stärkeren Appetitanregung durch den Süßstoff im Vergleich zum Zucker.

Beschränkter Erkenntnisgewinn

Die vorgestellte Studie weist einige gravierende Beschränkungen auf. Aus Untersuchungen eines einzelnen Süßstoffs an einer 75-Personen-Kohorte und noch deutlich kleineren Subkohorten lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen ableiten. Zudem ist die Korrelation zwischen hypothalamischer Blutstromstärke und Intensität des Hungergefühls nicht hinreichend explorativ manifestiert. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen bestätigt die vorgestellte Arbeit die vermeintlich appetitanregende Süßstoffwirkung. Dass diese im Studienkontext stärker ausfällt als bei Konsum von Zucker, trifft aber nur auf Menschen mit gesundem BMI zu. Welche Bedeutung ein hoher BMI für das Risiko einer weiteren Gewichtszunahme hat, zeigte sich in der bei Adipösen sowohl durch Süßstoff als auch durch Zucker ausgelösten, etwa gleichstarken Erhöhung des hypothalamischen Blutflusses: Süßstoff triggert ihren Hunger – mit der Folge sekundärer Energiezufuhr. Zucker erhöht zusätzlich die primäre Energieaufnahme.

Insgesamt bleibt weiterhin unklar, ob die süße Geschmacksempfindung der ausschlaggebende Reiz für die Appetitanregung ist und welche Rolle die an das Süßempfinden gekoppelte Höhe der Energieaufnahme spielt. Die Vergleiche der hypothalamischen Reaktionen auf Süßstoff und Zucker in den verschiedenen Subkohorten fielen zum Teil sehr unterschiedlich aus.

Fazit: Es bleibt spannend

Als wichtige Erkenntnis in diesem Kontext bleibt die augenscheinliche Abhängigkeit der Hypothalamusaktivierung von BMI und Geschlecht: Nach den Ergebnissen dieser Studie reagieren einzig gesundgewichtige Personen auf die vom Zucker gelieferten Kalorien mit einem gewissen Sättigungsempfinden, das beim Süßstoffkonsum ausbleibt. Demnach passt (nur) auf sie die Empfehlung, lieber in vernünftiger Dosierung mit Zucker zu süßen als hungrig machenden Süßstoff zu verwenden. Bereits Übergewichtigen, vor allem aber Adipösen, kann dieser Rat nicht gegeben werden. Gerade bei letzteren steigert alles Süße – ob mit oder ohne Kalorien – den Appetit in ähnlichem Ausmaß. Sola aqua bzw. anderes ohne Süßgeschmack und Energie, lautet hier die Devise.

Zur Wirkung verschiedener Süßstoffe auf die menschliche Physiologie gibt es angesichts der weltweit hohen Nachfrage viel zu erforschen. Dass Süßstoff – egal welcher chemischen Natur – etwas gänzlich anderes ist als Zucker ohne Kalorien, zeichnet sich immer deutlicher ab. Hinter dem Schadenspotenzial und dessen oft nicht hinreichend im Fokus stehender Dosisabhängigkeit stehen noch viele Fragezeichen.

Quellen:


Chakravartti et al.: Non-caloric sweetener effects on brain appetite regulation in individuals across varying body weights. Nat Metab, 2025. doi: 10.1038/s42255-025-01227-8 

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Debras et al.: Artificial Sweeteners and Risk of Type 2 Diabetes in the Prospective NutriNet-Santé Cohort. Diabetes Care, 2023. doi: 10.2337/dc23-0206

Wu et al.: Sweetener aspartame aggravates atherosclerosis through insulin-triggered inflammation. Cell Metab, 2025. doi: 10.1016/j.cmet.2025.01.006 

Debras et al.: Artificial sweeteners and cancer risk: Results from the NutriNet-Santé population-based cohort study. PLoS Med, 2022. doi: 10.1371/journal.pmed.1003950

Palomar-Cros et al.: Consumption of aspartame and other artificial sweeteners and risk of cancer in the Spanish multicase-control study (MCC-Spain). Int J Cancer, 2023. doi: 10.1002/ijc.34577

Steinert et al.: Effects of carbohydrate sugars and artificial sweeteners on appetite and the secretion of gastrointestinal satiety peptides. Br J Nutr, 2011. doi: 10.1017/S000711451000512X 

Wilk et al.: The Effect of Artificial Sweeteners Use on Sweet Taste Perception and Weight Loss Efficacy: A Review. Nutrients, 2022. doi: 10.3390/nu14061261

Smeets et al.: Functional magnetic resonance imaging of human hypothalamic responses to sweet taste and calories. Am J Clin Nutr, 2005. doi: 10.1093/ajcn/82.5.1011

Van Opstal AM, Kaal I, van den Berg-Huysmans AA et5 al.: Dietary sugars and non-caloric sweeteners elicit different homeostatic and hedonic responses in the brain. Nutrition, 2019. doi: 10.1016/j.nut.2018.09.004

Van Opstal et al.: Brain activity and connectivity changes in response to nutritive natural sugars, non-nutritive natural sugar replacements and artificial sweeteners. Nutr Neurosci, 2021. doi: 10.1080/1028415X.2019.1639306 

Roger et al.: The Role of the Human Hypothalamus in Food Intake Networks: An MRI Perspective. Front Nutr, 2022. doi: 10.3389/fnut.2021.760914 

Osada et al.: Functional subdivisions of the hypothalamus using areal parcellation and their signal changes related to glucose metabolism. Neuroimage, 2017. doi: 10.1016/j.neuroimage.2017.08.056 

Wright et al.: Differential effects of hunger and satiety on insular cortex and hypothalamic functional connectivity. Eur J Neurosci, 2016. doi: 10.1111/ejn.13182 

Kullmann et al.: The effect of hunger state on hypothalamic functional connectivity in response to food cues. Hum Brain Mapp, 2023. doi: 10.1002/hbm.26059

Neudorfer et al.: A high-resolution in vivo magnetic resonance imaging atlas of the human hypothalamic region. Sci Data, 2020. doi: 10.1038/s41597-020-00644-6

Suez et al.: Personalized microbiome-driven effects of non-nutritive sweeteners on human glucose tolerance. Cell, 2022. doi: 10.1016/j.cell.2022.07.016

Suez et al.: Artificial sweeteners induce glucose intolerance by altering the gut microbiota. Nature, 2014. doi: 10.1038/nature13793 

Die große Multivitamin-Lüge

Der Glaube an Multivitamin-Pillen oder zumindest die „Kann-ja-nicht-schaden-Überzeugung“ sind ungebrochen. Der wissenschaftliche Tenor ist aber ein anderer – sterben NEM-Fans vielleicht sogar früher?

Gezielt ausgewählt und individuell dosiert anstatt nach dem Gießkannenprinzip! In medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Fachkreisen dominiert die Auffassung, dass Nahrungsergänzungsmittel (NEM) der Prävention und/oder dem Ausgleich von Mikronährstoffmängeln für entsprechende sensible Personenkreise dienen. Ursache solcher Sensibilität können besondere Lebenssituationen (z. B. Schwangerschaft), Verhaltensweisen (Hochleistungssport, Mangel an natürlicher Sonnenlichtexposition), aber auch Malabsorptionssyndrome, Nahrungsunverträglichkeiten oder andere mit erhöhten Nährstoffmangelrisiken verbundene Vorerkrankungen sein.

Unbeeindruckt von derlei Vorgaben, herrscht in weiten Bevölkerungskreisen die Ansicht vor, dass konzentrierte Vitamine, Mineralstoffe und so manch anderes Wohlklingendes als Dragee, Brausetablette oder Fluid konsumiert, jedem Organismus guttut. Nach einer repräsentativen Umfrage des Portals „Statista Consumer Insights“ konsumieren drei Viertel der in Deutschland lebenden Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren im Vertrauen auf gesundheitlichen Nutzen NEM, wobei Vitamine mit einigem Abstand vor Mineralstoffen ganz oben auf der Beliebtheitsskala stehen.

Eine ärztliche Beratung mit serologischer Bestimmung des Mikronährstoffstatus findet nur in seltenen Fällen statt. NEM-Einnahme nach Gutdünken („kann ja nicht schaden“) macht den Löwenanteil der Konsumenten aus. Und da man nicht weiß, ob einem etwas fehlt, und wenn ja, was und wieviel davon, erscheint es doch am besten, die ganze Palette einzuwerfen. Wozu gibt es schließlich Multivitaminpräparate (MVP)?

„Klotzen und nicht kleckern!“

Durch eine Pille mit allem versorgt, da kann nichts mehr schiefgehen, so die verbreitete und durch lautstarkes Herstellermarketing unterfütterte Auffassung. Hinlänglich belegte Überdosierungsrisiken sind unter Konsumenten offenbar nicht bekannt oder gelten als nicht beachtenswert. Stellvertretend seien hier genannt:

Verlängern MVP das Leben?

Vor dem Hintergrund der großen Beliebtheit – auch in den USA nimmt jeder Dritte im Glauben an universell krankheitspräventive Wirkungen regelmäßig MVP ein – ist eine Arbeitsgruppe um Dr. Erikka Loftfiled vom National Cancer Institute in Rockville/Maryland auf die Suche nach epidemiologischen Assoziationen zwischen MPV-Einnahme und Bevölkerungssterblichkeit gegangen. In ihrer 2024 im JAMA Network publizierten Studie analysierte sie das Datenmaterial von drei prospektiven US-amerikanischen Kohortenstudien („National Institutes of Health–AARP Diet and Health“ (Studie zu Ernährung und Krankheitsrisiken), „PLCO Cancer Screening Trial“ (Krebsfrüherkennungsstudie); „Agricultural Health Study“ (Studie zu Pestizidwirkungen bei Landwirten).

Die Daten von über 390.000 Erwachsenen, die anamnetisch weder mit Krebs noch einer anderen chronischen Erkrankung vorbelastet waren, flossen schließlich in die Analyse ein. Die Nachbeobachtungsdauer betrug bis zu 27 Jahre. Primäres Ziel der Arbeit war die Prüfung der Hypothese, dass die tägliche MVP-Einnahme mit einer geringeren Gesamtsterblichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Haupttodesursachen – Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen – verbunden ist. Der hohen Bias-Anfälligkeit wurde durch multivariables Herausrechnen potenzieller Verzerrungsfaktoren (Ethnie, Geschlecht, Alter, Rauchen, Alkohol, Ernährung, BMI, körperliche Aktivität, Bildungsniveau und weitere) Rechnung getragen. Die Informationen zum MVP-Konsum (verschiedene Kategorien von „nie“ bis „täglich“) wurden in allen drei Kohorten jeweils zu Studienbeginn sowie zu mehreren Zeitpunkten während der Nachbeobachtung per Fragebogen gewonnen.

„MVP-senken-Mortalität-Hypothese“ nicht bestätigt

Über die fast drei Dekaden währende Gesamtbeobachtungsdauer verstarben von den 390.124 zu Beginn gesunden, ein Durschnittalter vom 61,5 (38–66) Jahren aufweisenden Personen (♂:♀ = 55:45) knapp 42 %. Unter den Verstorbenen machten Krebs mit circa. 30 % gefolgt von Herzkrankheiten mit 21 % und zerebrovaskuläre Schäden mit 5,6 % die höchsten krankheitsbedingten Todesursachen aus. Weder hinsichtlich der Gesamtmortalität noch bezüglich der häufigsten Todesursachen war für die regelmäßige MVP-Einnahme ein reduzierender Effekt nachweisbar. Im Gegenteil: Die multifaktoriell um genannte Einflussfaktoren bereinigte Sterberate bei den täglichen MVP-Konsumenten lag signifikant um 4 % höher als bei den Nicht-Konsumenten (multivariabel adjustierte HR 1,04; 95 % KI; 1,02–1,07). Subanalysen mit Stratifizierung nach Geschlecht, Alterskategorie, Ethnie, Raucherstatus, Alkoholkonsum, BMI u. w. hatten auf dieses Ergebnis keinen signifikanten Einfluss.

Gefährliche Ingredienzien?

Dass eine statistische Analyse, auch wenn die sie die Daten von drei großen randomisierten Kohorten poolt, keine Kausalitäten aufdecken kann, versteht sich von selbst. Ob also tatsächlich die konzentrierte MV-Aufnahme (mit)ursächlich für das etwas erhöhte Sterberisiko ist, bleibt fraglich, zumal die Art des konsumierten MVP und damit auch die Dosierung der einzelnen Vitamine keine Berücksichtigungen fanden. Ein erwähnenswerter Aspekt in diesem Kontext ist der im Juni 2024 von einer Arbeitsgruppe der „Heads of Food Safety Agency“ (HoA) – das ist die Leitungsebene der höchsten europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit – herausgegebener „First Report Food Supplements“.

Auf Basis gesammelter Forschungsdaten listet die Gruppe, in der Vertreter aus 26 europäischen Ländern tätig sind, in diesem Bericht 117 potentiell gesundheitsgefährdende Inhaltsstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln auf. Diese Substanzen sollten nicht oder nur eingeschränkt in NEM eingesetzt werden. 65 dieser Substanzen werden als „neuartig“ und daher in ihren Schädigungspotenzial noch nicht hinreichend untersucht eingestuft. 13 werden bei Aufnahme über NEM wegen der deutlich die normale Aufnahmemenge übersteigenden Dosis als risikobehaftet bewertet. Hierzu zählen beispielsweise CumarinCurcuminLepidium meyenii (Maca) und Withania somnifera (Ashwagandha).

Die HoA hat diese Liste für den europäischen Markt einstimmig verabschiedet. Die Umsetzung mit dem Ziel entsprechender gesetzlicher Regelungen ist gerade erst angelaufen. Inwieweit „unschöne“ Zutaten aus dem Bereich von Konservierungs- und Bindemitteln, Farb-, Aroma- und anderen „E-benummerten“ Stoffen dazu beitragen, dass MVP offenbar keinen positiven, wenn nicht gar einen nachteiligen Effekt auf die Gesundheit entfalten, ist bislang spekulativ. Man sollte es aber im Auge behalten und – sofern man NEM-Verwender ist – ruhig mal einen Blick auf die meist ärgerlich klein gedruckte Zutatenliste riskieren.

Nahrungsergänzung ist weder Lebensmittelersatz noch Medizin

NEM sind nicht dafür konzipiert, eine von Unlust auf mikronährstoffdichte Lebensmittel charakterisierte Fast-Food-Ernährungskultur oder das Praktizieren trendiger einseitiger Ernährungsphilosophien zu ermöglichen. Vielmehr geht es um den Ausgleich bzw. die Prävention von Defiziten, die bestimmten Lebenssituationen und/oder krankhaften Versorgungsstörungen geschuldet sind. Da NEM rechtlich keine Medikamente/Medizinprodukte, sondern als Lebensmittel deklariert sind, ist für ihre Markteinführung kein studienbasierter Wirkungsnachweis erforderlich. Ein NEM muss vom Hersteller lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) gemeldet werden.

Damit werden zulässigen Werbeaussagen gewisse Schranken wie das Verbot mit krankheitsvorbeugenden oder heilenden Inhalten zu ködern, auferlegt. Auch darf nicht der Eindruck einer Notwendigkeit des NEM-Konsums zur Nährstoffdeckung vermittelt werden. Trotz aller Auflagen ist die Marketingbranche kreativ genug, Slogans zu formulieren, die den Eindruck einer gesundheitsfördernden, wenn nicht gar kurativen Wirkung zu vermitteln. Problematisch bei alledem ist, dass für die NEM-Sicherheit allein die Hersteller zuständig sind. Das verpflichtet sie zwar über potentiell riskante Inhaltsstoffe wie Allergene zu informieren. Zu Kontraindikationen der Einnahme oder den zahlreichen bekannten Wechselwirkungen mit Medikamenten, müssen jedoch keine Hinweise geliefert werden. Auch fehlt eine EU-weit gültige Höchstmengenregelung und sonstige, möglicherweise problematische Zusatzstoffe müssen ohne jeden Warnhinweise lediglich auf der Verpackung aufgeführt werden.

Erkenntnisgewinn?

Dass die Ernährungswissenschaft aufgrund der fehlenden Praktikabilität randomisierten Interventionsstudien über lange Zeiträume kaum Kausalitäten aufdecken kann, ist eine gleichermaßen unbefriedigende wie schwerlich zu lösende Situation. Auch die mit dem Befragungsdesign verbundenen Unsicherheiten, die den allermeisten Ernährungsstudien anhaftenden, wurden im DocCheck-Forum oft genug diskutiert. Mit diesem Bias muss man in der Ernährungswissenschaft leben. Immerhin lässt sich vermuten, dass die MVP-Einnahme weit weniger schambehaftet ist als vermeintliche kulinarische Sünden aus der „Süß-und-fettig-Ecke“. Somit besteht zumindest die Hoffnung, dass die Selbstauskünfte der Probanden in den analysierten Studienkohorten keine allzu weite „Subjektiv-objektiv-Schere“ aufweisen.

Eingedenk der prinzipiell begrenzten Verlässlichkeit statistischer Datenanalysen liefert die Arbeit keine Gründe, von der Strategie abzuweichen, Supplemente nur dann gezielt und individuell dosiert zur Behandlung (serologisch) gemessene Nährstoffdefizite einzusetzen, wenn eine hinreichend Versorgung über die alltägliche Kost nicht möglich ist. Getreu dem „Viel-hilft-viel-Mythos“ mit der MVP-Gießkanne einen möglicherweise schon übervollen Tank zu malträtieren, ist eine Praxis, für die sich keine belastbaren Argumente finden lassen. Nicht zu vergessen bei alledem: Zu den als „gesundheitsstärkend“ beworbenen Inhaltsstoffen (über 70 sind des bei einem des aktuell am offensivsten vermarktete Produkts) gesellen sich oft eine Vielzahl nur halblaut im Kleingedruckten aufgeführten „Kollateralsubstanzen“, deren Unbedenklichkeit bei Dauereinnahme nicht gesichert ist.

Quellen:

Loftfield et al. Multivitamin Use and Mortality Risk in 3 Prospective US Cohorts. JAMA Netw Open, 2024. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.18729

Matthews C, Liao L, Sinha R, Ward M. NIH-AARP Diet and Health Study. Division of Cancer Epidemiology & Genetics at the National Cancer Institute

Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian (PLCO) Cancer Screening Trial. Nat. Inst. of Health – Nat. Cancer Inst. 

Nat. Inst. of Health. Nat. Cancer Inst. and Nat. Inst. of Environmental Health Sciences. 

Heads of Food Safety Agency (HoA). First report of the HoA Working Group „Food Supplements“