Darmkrebsprävention durch Magnesium: Rolle von Vitamin-D-synthetisierenden Bakterien

Magnesium steigert die Abundanz von Carnobacterium maltaromaticum und Faecalibacterium prausnitzii – Darmbakterien, die lokal Vitamin D synthetisieren und so zur Prävention des Kolorektalkarzinoms beitragen können.

Das Kolorektalkarzinom zählt weltweit zu den häufigsten malignen Tumoren. Laut internationalen Registerdaten gehört es sowohl bei der Inzidenz als auch bei der Mortalität zu den führenden Krebserkrankungen. Neben etablierten Risikofaktoren wie Ernährung, Lebensstil und genetischer Prädisposition rückt zunehmend das intestinale Mikrobiom als modulierender Faktor in den Fokus. Insbesondere mikrobiologische Mechanismen, die mit Vitamin-D-Stoffwechselwegen verknüpft sind, werden intensiv erforscht.

Zusammenspiel von Darmbakterien, Magnesium und Genetik im Fokus

Präklinische Arbeiten zeigen, dass Carnobacterium maltaromaticum und Faecalibacterium prausnitzii Vorstufen von Vitamin D im Darm in aktive Metaboliten umwandeln und so die kolorektale Karzinogenese hemmen können. Parallel wurde beobachtet, dass Magnesiumspiegel den Vitamin-D-Stoffwechsel beeinflussen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das TRPM7-Gen, das den Magnesiumhaushalt reguliert. Vor diesem Hintergrund entstand die Hypothese, dass Magnesium das intestinale Mikrobiom in einer Weise moduliert, die das Risiko für kolorektale Neoplasien beeinflusst.

Präzisionsbasierte RCT untersucht Einfluss von Magnesium auf das Mikrobiom

Die Personalized Prevention of Colorectal Cancer Trial (NCT04229992) wurde als doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Studie konzipiert und im ‚The American Journal of Clinical Nutrition‘ (AJCN) veröffentlicht. Insgesamt nahmen 240 Probanden mit anamnestisch bekannten Kolonpolypen teil. Die Randomisierung erfolgte unter Berücksichtigung des TRPM7-Genotyps. Analysiert wurden Stuhlproben, Rektalabstriche und Biopsien der Rektalschleimhaut. Primärer Endpunkt war die Veränderung der bakteriellen Zusammensetzung, insbesondere der Abundanz von C. maltaromaticum und F. prausnitzii.

TRPM7-Genotyp bestimmt Effekte auf Vitamin-D-synthetisierende Bakterien

Von 239 Auswertungen lagen bei 226 Mikrobiomdaten vor (n = 112 Intervention, n = 114 Placebo).

  • Bei Probanden ohne TRPM7-Missense-Variante führte Magnesium zur Zunahme von C. maltaromaticum (p = 0,006) und F. prausnitzii (p = 0,04) in Rektalabstrichen. Für C. maltaromaticum blieb das Ergebnis auch nach Korrektur multipler Vergleiche signifikant.
  • Bei Trägern der TRPM7-Missense-Variante zeigte sich hingegen eine signifikante Reduktion von C. maltaromaticum (adjustiertes p = 0,04), während F. prausnitzii unbeeinflusst blieb.
  • Der Effekt war vorrangig bei weiblichen Teilnehmern nachweisbar.

Erhöhte F. prausnitzii-Abundanz steigert, C. maltaromaticum senkt Polypenrisiko

In einer Subkohorte von 124 Teilnehmern wurden nach einer medianen Nachbeobachtung von 3,5 Jahren Koloskopien durchgeführt. Dabei zeigte sich:

  • Eine höhere Abundanz von F. prausnitzii in der Rektalschleimhaut war mit einem nahezu dreifach erhöhten Risiko für metachrone Polypen assoziiert.
  • Eine erhöhte Abundanz von C. maltaromaticum in Rektalabstrichen stand in Zusammenhang mit einem tendenziell reduzierten Risiko für serratierte Polypen.

Deutlich stärkere Effekte bei Frauen

Die stärksten Effekte wurden in der weiblichen Subgruppe beobachtet. Die Zunahme der relevanten Bakterienarten zeigte sich nahezu ausschließlich bei weiblichen Probanden. Als mögliche Erklärung verweisen die Studienautoren auf die Rolle von Östrogen bei der intrazellulären Magnesiumverteilung.

Fazit: Magnesium moduliert Mikrobiom und stärkt Ansatz zur Prävention des Kolorektalkarzinoms

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Magnesium das intestinale Mikrobiom abhängig vom TRPM7-Genotyp und Geschlecht beeinflusst. Besonders C. maltaromaticum und F. prausnitzii, die in präklinischen Modellen mit lokaler Vitamin-D-Synthese und Hemmung der kolorektalen Karzinogenese assoziiert sind, wurden unter Magnesiumgabe vermehrt nachgewiesen.

Damit liefert die Studie wichtige Einblicke in das Zusammenspiel von Mikronährstoffstatus, Mikrobiom und Kolorektalkarzinom und schafft eine Grundlage für präzisionsbasierte Präventionsansätze.

Quelle:
  1. Sun, E. et al. (2025): Magnesium treatment increases gut microbiome synthesizing vitamin D and inhibiting colorectal cancer: Results from a double-blind precision-based randomized placebo-controlled trial. The American Journal of Clinical Nutrition, DOI: 10.1016/j.ajcnut.2025.09.011.
  2. Vanderbilt University Medical Center, News, 12. September 2025.

So krallen sich Staphylokokken auf der menschlichen Haut fest

Es soll die „stärkste jemals nachgewiesene natürliche Proteinbindung“ sein, „stärker als Superkleber“ und „in der Natur nahezu unübertroffen“: Wie die Auburn University (Alabama) in der vergangenen Woche mitteilte, haben Physiker der Uni gemeinsam mit Partnern in Belgien und Großbritannien herausgefunden, warum sich Staphylokokken so hartnäckig an der menschlichen Haut festsetzen können. Die Entdeckung eröffne nun neue Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Infektionen.

Im Mittelpunkt der nun im Magazin „Science Advances“ veröffentlichten Studie steht ein bakterielles Protein namens SdrD. Staphylokokken sollen es wie einen Enterhaken verwenden, um sich an das menschliche Protein Desmoglein-1 zu binden (siehe: Grafik). „Es ist die stärkste nicht-kovalente Protein-Protein-Bindung, die jemals beschrieben wurde“, wird Rafael Bernardi, Associate Professor für Physik an der Auburn University und einer der leitenden Autoren, zitiert. „Das macht Staphylokokken so hartnäckig und hilft uns zu verstehen, warum diese Infektionen so schwer zu bekämpfen sind.“ Die beschriebene Bindung sei einzigartig und erkläre, warum Staphylokokken auch nach Kratzen, Waschen oder Schwitzen an der Haut haften bleiben.

Kalzium stärkt die Bindung

Die Studie ergab auch, dass Kalzium, ein Element, das eher für die Stärkung der Knochen bekannt ist, das bakteriellen Haftvermögen stärken kann: Als der Kalziumspiegel in Laborversuchen gesenkt wurde, schwächte sich die Bindung zwischen SdrD und Desmoglein-1 deutlich ab. Als Kalzium wieder hinzugefügt wurde, festigte sich die Bindung.

Relevant für Patienten mit Ekzemen

Diese Erkenntnis ist den Forschenden zufolge besonders relevant für Patienten mit Ekzemen, bei denen das Kalziumgleichgewicht in der Haut gestört ist. Anstatt die Haut zu schützen, könnten diese unregelmäßigen Werte den Halt der Staphylokokken sogar noch verstärken. „Wir waren überrascht, wie sehr Kalzium zur Stärke dieser Wechselwirkung beiträgt“, erklärt Mitautorin Priscila Gomes (Fachbereich Physik, Auburn University). „Es stabilisierte nicht nur das bakterielle Protein, sondern machte den gesamten Komplex auch viel widerstandsfähiger gegen Zerbrechen.“

Methodik: atomares Kräftemessen

Um diese Details aufzudecken, kombinierte das Team den Angaben zufolge „Einzelmolekülexperimente mit fortschrittlichen Computersimulationen“: Mithilfe der Rasterkraftmikroskopie („atomic force microscopy“) wurde beispielsweise die Kraft gemessen, mit der sich ein einzelnes Staphylokokkenbakterium an die menschlichen Hautproteine bindet. Die Wechselwirkung zwischen den Atomen wurde zudem auf Supercomputern simuliert. Beide Ansätze seien dann zu dem gleichen „bemerkenswerten Ergebnis“ gekommen: „Der Griff von SdrD an Desmoglein-1 ist stärker als jede andere in der Biologie bekannte Proteinbindung.

Fazit: neue Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Infektionen

Diese Entdeckung eröffnet nach Ansicht der Autoren neue Strategien zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Infektionen: Anstatt zu versuchen, Bakterien direkt abzutöten, was oft zur Entwicklung von Resistenzen führt, könnten Wissenschaftler in Zukunft Mittel entwickeln, die die Adhäsion von Bakterien blockieren oder schwächen. „Indem wir auf die Adhäsion abzielen, suchen wir nach einem völlig anderen Weg, bakterielle Infektionen zu bekämpfen“, sagt Bernardi. „Wir versuchen nicht, die Bakterien zu zerstören, sondern sie daran zu hindern, sich überhaupt anzuheften.“

Originalpublikation:

Constance Chantraine et al. Ultrastrong Staphylococcus aureus adhesion to human skin: Calcium as a key regulator of noncovalent interactions.Sci. Adv.11, eadu7457(2025). DOI:10.1126/sciadv.adu7457

Zahnsanierung vor Herzklappenersatz

Die S2k-Leitlinie „Zahnsanierung vor Herzklappenersatz“ wurde aktualisiert. Die dritte Fassung der Empfehlungssammlung enthält nun acht neue Empfehlungen sowie zwei neue Statements. Zum ersten Mal ist beispielsweise „der optimale Zeitpunkt der konsiliarischen Beurteilung vor dem Herzklappenersatz und die Dauer sowie Frequenz der zahnärztlichen Kontrollen nach Herzklappenersatz definiert“ worden.

Unter „Zahnsanierung vor Herzklappenersatz“ wird in der Leitlinie, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) erstellt wurde, „eine oder mehrere Maßnahmen zur Elimination akuter und/ oder chronischer Entzündungsgeschehen verstanden mit dem Ziel einer Behandlungsfreiheit nach dem Herzklappenersatz für mindestens sechs Monate“.

Zielgruppe

Die Leitlinie richtet sich vornehmlich an Zahnärzte (Fachzahnärzte für Oralchirurgie/ Fachzahnärzte für Parodontologie/ spezialisierte Zahnärzte für Endodontologie, Parodontologie und Implantologie) sowie Fachärzte für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und Fachärzte für Herzchirurgie. Sie ist aber auch als Information für Kardiologen gedacht.

Themen

Um Redundanzen zu vermeiden, wurde die Leitlinie den Autoren zufolge in Teilen neu gegliedert: Themen der nun vorliegenden Leitlinie sind beispielsweise die „Inzidenz dentogener Endokarditiden nach Herzklappenersatz“, die „Mundhöhle als Quelle einer Endokarditis nativer und ersetzter Herzklappen“, der „Einfluss der Technik des Herzklappenersatzes (offenchirurgisch versus interventionell kathetergestützt) auf die Inzidenz und Verteilung der bakteriellen Besiedlung einer Endokarditis“, „evidenzbasierte Kriterien zur Erhaltungswürdigkeit von Zähnen“, die „evidenzbasierte Diagnostik (klinisch/radiologisch) als Mindestanforderung zur Beurteilung der Erhaltungswürdigkeit von Zähnen“ oder der „Einfluss der oralen Hygiene auf die Inzidenz der bakteriellen Endokarditis“.

Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick:

Für die Risiko-Stratifizierung und die Behandlungsempfehlung sollten die Dokumente zur Anamnese und zur spezifischen kardialen Vorgeschichte zur Verfügung stehen.

Als notwendige Untersuchungen zur Therapieentscheidung sollen durchgeführt werden:

  • Inspektion,
  • Sensibilitätstest der Zähne,
  • Kontrolle der Sondierungstiefen (empfohlen: PSI), wenn nicht durch vorangegangene Untersuchungen festgestellt wurde, dass eine sanierungsbedürftige Parodontitis vorliegt,
  • Röntgenuntersuchung unter vollständiger Darstellung der Zähne inklusive der periapikalen Region und Darstellung relevanter umgebender anatomischer Strukturen, ggf. unter Einbeziehung früherer Aufnahmen zur Verlaufskontrolle.

Alle beteiligten Disziplinen sollten gemeinsam und interdisziplinär eine geeignete, patientenindividuelle Vorgehensweise festlegen und dabei alle potentiell relevanten Versorgungsaspekte abwägen.

Um die Mundhygiene der Patienten vor Herzklappenersatz zu optimieren, sollen individuell angepasste Techniken und Hilfsmittel empfohlen werden. Die Patienten sollten die richtige Anwendung dieser Hilfsmittel ggf. mit professioneller Unterstützung und Übungen erlernen.

Es sollte, wenn es die allgemeine und kardiale Krankheitssituation des Patienten zulässt, ein ausreichendes Intervall (bei Eröffnung der Schleimhaut, wenn möglich, 10 bis 30 Tage) zwischen indiziertem Herzklappenersatz und dennoch notwendiger Zahnsanierung beachtet werden.

Nach einem Herzklappenersatz sollten die Patienten zur regelmäßigen zahnärztlichen Nachsorge (Recall-System) beim behandelnden Zahnarzt, Oralchirurgen oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen für das erste postinterventionelle Jahr möglichst vierteljährlich einbestellt werden, um die alltäglichen Bakteriämieraten so gering wie möglich zu halten und um den Erfolg häuslicher Mundhygienemaßnahmen (Zähneputzen und Interdentalhygiene) zu überprüfen.

Bei invasiven dentalen Prozeduren sollte und bei moderaten dentalen Prozeduren kann eine Antibiotikaprophylaxe erfolgen.

Clindamycin kann häufigere und schwerwiegendere Nebenwirkungen hervorrufen als andere Antibiotika, die für eine Antibiotikaprophylaxe verwendet werden. Bei einer Unverträglichkeit von Penicillin oder Ampicillin sollte somit Cephalexin, Azithromycin/Clarithromycin, Doxycyclin oder Cefazolin/Ceftriaxon verordnet werden.

Zur Leitlinie:

DGMKG, DGZMK: „Zahnsanierung vor Herzklappenersatz“, Langfassung 2025, Version 3.0, AWMF-Registriernummer: 007-096

Herzgesundheit am (zahn)seidenen Faden

Könnte die regelmäßige Verwendung von Zahnseide das Risiko für Schlaganfälle und Vorhofflimmern senken? Warum Mundhygiene Herzenssache ist, lest ihr hier

Sobald der Begriff „Gesundheitsvorsorge“ fällt, denken viele an ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung oder den Verzicht auf Rauchen. Weit weniger Menschen berücksichtigen, dass auch die Mundhygiene ein wichtiger Faktor sein kann, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen vorzubeugen. Bisher war vor allem das Zähneputzen Thema in der Forschung, doch nun rückt ein anderer Aspekt in den Fokus: die Verwendung von Zahnseide.

Im Rahmen der International Stroke Conference 2025 der American Stroke Association wurde eine Studie vorgestellt, die diesen Zusammenhang genauer unter die Lupe nimmt: Menschen, die mindestens einmal wöchentlich Zahnseide benutzen, haben ein geringeres Risiko für ischämische Schlaganfälle und für Herzrhythmusstörungen wie das Vorhofflimmern.

Gesund beginnt im Mund

Mundhygiene wird oft als reines kosmetisches Anliegen oder als Schutz vor Karies betrachtet – doch die Assoziation von Zahnfleischerkrankungen wie Parodontitis mit systemischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden besteht schon länger. Ein möglicher Grund ist, dass bakterielle Entzündungen im Mund die Produktion von Entzündungsstoffen im Blut ankurbeln, die wiederum zu Arteriosklerose oder anderen kardiovaskulären Risiken beitragen können.

Die globale Bedeutung dieses Themas wird in Zahlen deutlich: Ein Bericht der WHO stellte 2022 fest, dass 3,5 Milliarden Menschen weltweit an unbehandeltem Zahnverfall und Zahnfleischerkrankungen leiden – das sind einige der am weitesten verbreiteten Gesundheitsprobleme überhaupt.

Stabile Datengrundlage

Die im Rahmen der Konferenz vorgestellten Ergebnisse stammen aus der bekannten Atherosclerosis Risk in Communities (ARIC)-Studie, einer großen, langjährigen Untersuchung zu Atherosklerose-Risikofaktoren in den USA. Die ARIC-Studie startete 1987 und umfasst mittlerweile mehrere Jahrzehnte an Daten.
Für die aktuelle Auswertung wurden über 6.000 Menschen befragt, die Auskunft über ihre Gewohnheiten in Bezug auf Zahnseide, Zähneputzen und Zahnarztbesuche gaben. Die Forscher um Studienleiter Souvik Sen verfolgten über 25 Jahre die Entwicklung von Schlaganfällen und Vorhofflimmern. Zudem wurden weitere klassische Herz-Kreislauf-Risikofaktoren – darunter Blutdruck, DiabetesCholesterinwerte, Raucherstatus, körperliche Aktivität sowie das Bildungsniveau – erhoben.

Zahlen, bitte

Während der 25-jährigen Nachbeobachtung trat bei 434 Personen ein Schlaganfall auf. Von diesen Schlaganfällen waren:

  • 147 durch größere Arteriengerinnsel bedingt (sogenannte große-arterielle Schlaganfälle),
  • 97 von Herz-bedingten Blutgerinnsel (kardioembolische Schlaganfälle) verursacht,
  • 95 auf kleinere Gefäße zurückzuführen (lakunäre Schlaganfälle).

Außerdem wurden 1.291 Fälle von Vorhofflimmern registriert.

Die regelmäßige Benutzung von Zahnseide (≥ 1-mal pro Woche) ging mit einer 22 %igen Risikoreduktion für ischämische Schlaganfälle einher. Auch das Risiko für einen kardioembolischen Schlaganfall war um 44 % verringert, das Risiko für Vorhofflimmern um 12 %.

Unabhängig vom Zahnarzt

Besonders hervorzuheben ist, dass dieser Effekt unabhängig von anderen Faktoren wie regelmäßigem Zähneputzen oder Zahnarztbesuchen war. Mit anderen Worten: Selbst wenn jemand häufig putzt oder den Zahnarzt aufsucht, scheint die Zahnseide eine zusätzliche positive Wirkung zu haben.

Die Forscher vermuten, dass die Reduzierung von Bakterien im Zahnzwischenraum und am Zahnfleischrand eine Rolle spielt – gerade hier können sich krankheitsverursachende Keime und Plaque ansammeln, die zu lokalen Entzündungen führen und systemische Entzündungsmarker erhöhen können. Laut Studienleiter Souvik Sen gebe es deutliche Hinweise darauf, dass eine verminderte Entzündungsbelastung das Arteriosklerose-Risiko senken und so Schlaganfällen vorbeugen könnte.

Ein unerwarteter Befund

Besonders überraschend war die Assoziation zwischen Zahnseide und dem Risiko für Vorhofflimmern – es stellt einen Hauptrisikofaktor für Schlaganfälle dar. Laut der American Heart Association könnte die Zahl der Betroffenen mit Vorhofflimmern in den USA bis 2030 auf über 12 Millionen steigen. Die aktuellen Daten legen nahe, dass eine gute Mundhygiene – insbesondere das regelmäßige Verwenden von Zahnseide – möglicherweise einen zusätzlichen Schutz bietet. Allerdings ist nicht abschließend geklärt, ob dieser Effekt direkt durch eine reduzierte Entzündung oder indirekt durch einen gesünderen Lebensstil – Menschen, die auf gute Mundpflege achten, achten oft auch auf andere Gesundheitsaspekte – zustande kommt.

Mit Zahnseide gesünder leben?

Trotz der Vorläufigkeit ist die Botschaft deutlich: Zahnseide ist kostengünstig, leicht anzuwenden und überall erhältlich. Anders als bei teuren Zahnbehandlungen und Prothesen kann diese einfache Methode einen großen Teil der Bevölkerung erreichen. Zusammen mit regelmäßigen Zahnarztbesuchen, ausreichendem Zähneputzen und einer allgemein gesunden Lebensweise könnte dies ein weiterer Mosaikstein sein, um das Schlaganfall- und Herzrisiko zu senken.

„Mundgesundheit könnte möglicherweise in die ,Life’s Essential 8‘-Risikofaktoren aufgenommen werden.“, kommentierte Professor Daniel T. Lackland von der Medical University of South Carolina. Gemeint sind damit die bereits etablierten Herz-Kreislauf-Risikofaktoren (Ernährung, Bewegung, Blutdruck, Blutzucker, Cholesterin, Nikotinexposition, Schlaf und Körpergewicht). Ob Zahnseide hier bald als neunter Faktor hinzukommt, wird zukünftige Forschung zeigen.

Fazit

Die Studie aus den USA lässt hoffen: Eine vermeintlich banale Maßnahme wie das wöchentliche Benutzen von Zahnseide könnte das Risiko für bestimmte Schlaganfälle sowie Vorhofflimmern reduzieren. Zwar stehen weiterführende Untersuchungen an – dennoch lohnt es, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn selbst wenn sich nur ein Teil dieses Effekts bestätigt, kann die regelmäßige Verwendung von Zahnseide einen wichtigen Beitrag zur Herz-Kreislauf-Gesundheit leisten. Die Ergebnisse liefern zudem einen weiteren Anreiz, die eigene Mundhygiene-Routine zu überdenken und Zahnseide konsequent in den Alltag zu integrieren.

Zusammenfassung für Eilige:

  • Regelmäßig Zahnseide, geringeres Schlaganfallrisiko: Eine vorläufige Studie legt nahe, dass die wöchentliche Verwendung von Zahnseide das Risiko für ischämische Schlaganfälle um 22 % und für kardioembolische Schlaganfälle sogar um 44 % senken könnte.
  • Zusammenhang mit Vorhofflimmern: Auch die Gefahr, ein Vorhofflimmern zu entwickeln, war um 12 % geringer – unabhängig von anderen Mundhygiene-Gewohnheiten wie Zähneputzen oder Zahnarztbesuchen.
  • Mundgesundheit als Teil der Prävention: Obwohl noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet, stützen die Ergebnisse die These, dass eine gute Mundpflege – inklusive Zahnseide – ein wichtiger Baustein für die Herz-Kreislauf-Gesundheit sein kann.

Quelle:

Sen, Souvik et. al. Regular dental flossing may lower risk of stroke from blood clots, irregular heartbeats. American Heart Association, 2025.

 

Machen Süßstoffe Lust auf mehr?

Süßen ohne Kalorien? Verlockend! Doch die Warnungen vor Süßstoffen reißen nicht ab. Denn Saccharin & Co. beeinflussen nicht nur Metabolismus und Herzgesundheit – sie wirken auch im Gehirn.

Die Lust auf Süßes wird uns in Form der Muttermilch in die Wiege gelegt. Evolutionsbiologen attestieren dem süßen Geschmack den Zweck, unsere Urahnen vom Verzehr bitterschmeckender Toxine abgehalten zu haben. Die mit hohem Zuckerkonsum verbundenen gesundheitlichen Risiken beschäftigten die Wissenschaft schon vor 150 Jahren. 1878 entdeckte der Chemiker Constantin Fahlberg eher zufällig, quasi als analytisches Nebenprodukt, den ersten künstlichen Süßstoff – das Saccharin. Man glaubte, die bereits damals vom Zucker verursachten „gewichtigen“ und dentalen Probleme damit in den Griff zu bekommen. Primär waren es aber wirtschaftliche Gründe, die Saccharin – wegen seiner preisgünstigen Herstellung auch „Zucker der Armen“ genannt – zum Aufstieg verhalfen.

Mit dem Anwachsen von Wohlstand, Wohlstandsbäuchen und der Diabetesprävalenz seit den 1950er Jahren gewann der Kalorien-Spareffekt zunehmend an Bedeutung, was in der Entwicklung einer Flut von Süßstoffen mit teils extremer Süßkraft mündete. Fast ebenso lang währt die Diskussion um gewichtsreduzierenden Nutzen und mögliche pathogene Wirkungen, die in den letzten Jahren durch eine Vielzahl von Studien intensiviert wurde. Das Spektrum der Verdächtigen reicht vom Darmmikrobiom (hier) über Diabetesrisiko (hier) und Gefäßschäden (hier) bis hin zu Krebsrisiken (hier und hier).
In einer Ende März 2025 in Nature Metabolism publizierten Studie nimmt eine kalifornische Arbeitsgruppe eine vermeintliche Süßstoffwirkung wieder in den Blick, die zu Beginn der „Süßstoffrevolution“ die Kritikwelle begründete.

„Männer sind Schweine…“

Etwa zur gleichen Zeit als Die Ärzte diesen Ohrwurm erstmalig (in eher charakterlichem Sinne) intonierten, war eine Erklärung für ausbleibende Erfolge abnehmwilliger Süßstoffkonsumenten omnipräsent. Mit dem Verweis auf Süßstoffzusatz zum Schweinefutter zur Beschleunigung der Masterfolge wurde dem Süßstoffkonsum eine appetitanregende Wirkung zugeschrieben, die stillschweigend auf humane Konsumenten transferiert wurde – und zwar auf beide Geschlechter. Der süße Geschmack würde dem Nervus vagus eine Zuckeraufnahme vortäuschen, die via Insulinausschüttung das Verlangen nach mehr initiieren und im Endeffekt in höherer Energieaufnahme münden würde.

Eine Protestwelle von Süßstoffproduzenten, die das Fehlen belastbaren Studiendaten monierten und Schweinezüchtern, die Süßstofffütterungen negierten, ließ den Aufschrei um die potenziell Süßstoff-vermittelte Appetitanregung in der öffentlichen Wahrnehmung abklingen, in Fachkreisen aber nie verstummen. Dennoch sind Studien zu dem Thema rar.

Eine 2011 publizierte Arbeit konnte aus In-Vitro-Analysen vorliegende Befunde, wonach Süßstoffe in ähnlicher Weise wie Zucker (GlukoseFruktose) die Sekretion der gastrointestinaler Sättigungs-/Hungerhormone GLP-1Ghrelin und Peptid YY und damit das Nahrungsverlangen beeinflussen, in einer In-Vivo-Studie mit doppelt verblindetem, placebokontrollierten Crossover-Design nicht reproduzieren. Der Süßstoffkonsum hatte hier im Gegensatz zum echten Zucker keinen messbaren Effekt auf die Sekretion der drei Peptide und entfaltete weder eine sättigende noch eine appetitanregende Wirkung.

Eine Übersichtsarbeit aus 2022 schließt mit dem Resümee, dass die Süßstoffwirkung auf die Appetitregulation und die Wahrnehmung von Süßem unklar bleibt. Der überwiegende Teil der vorliegenden Studien liefere aber keine belastbaren Belege, dass der Konsum von Süßstoff das Verlangen nach Süßem befeuere und zu höherer Energieaufnahme und Körpergewichtszunahme führe. Zur Beurteilung langfristiger Auswirkungen eines regelmäßigen Süßstoffverzehrs auf die Gewichtsentwicklung reiche der bis dato verfügbare Studienpool nicht aus. Einen Beitrag zur Schließung dieser Datenlücke wollten nun Neurowissenschaftler der University of Southern California/Los Angeles unter Mitwirkung der Universität Tübingen leisten.

Hypothalamus im Visier

Nach heutigem Kenntnisstand nimmt der Hypothalamus unter dem Einfluss gastrointestinaler Hormone wie Ghrelin und GLP-1 sowie Adipokinen wie Leptin eine zentrale Rolle bei der Steuerung von Hunger und Sättigung ein (hier und hier). Dabei scheinen besonders der Nucleus arcuatus und der laterale Hypothalamus in die Appetitregulation verwickelt zu sein.

Koordinierte funktionelle Kooperationen zwischen Hypothalamus und anderen Hirnarealen übernehmen nach den Ergebnissen kernspintomografischer Analysen die Einstellung der Homöostase im Energiehaushalt (hier und hier). Ausgangpunkt für die aktuelle Studie waren eine Reihe früherer Arbeiten, die mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gezeigt haben, dass der Konsum von Einfachzuckern wie Glukose die Aktivierung des Hypothalamus hemmt und den zerebralen Blutfluss reduziert. Die Verringerung der Hypothalamusaktivität nach Aufnahme von Zuckerenergie war in diesen Arbeiten mit einer Abnahme des Hungergefühls assoziiert.

Nach Aufnahme kalorienfreier Süßstoffe hingegen zeigten die fMRT-Scans keine vergleichbare, einen Sättigungseffekt anzeigende Reduktion der Hypothalamusaktivität (hier und hier). Demzufolge wäre der süße Geschmack allein kein unabhängiger Effektor für die Appetitregulation, da die Kopplung der Süß-Empfindung an eine Energieaufnahme eine andere hypothalamische Reaktion auslöst als ohne Kalorienzufuhr. Die aufgrund kleiner Probandenzahlen sowie mangelnder Diversität bezüglich Körpergewicht, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit beschränkte Aussagekraft dieser Arbeiten inspirierte die kalifornischen Neurowissenschaftler zu einer hypothalamischen Analyse an einer nach Body Mass Index (BMI) und Geschlecht stratifizierten Kohorte.

Wie reagiert der Hypothalamus auf Süßstoff?

Primärziel der Studie war es, in Abhängigkeit von BMI und Geschlecht eventuelle Unterschiede in der hypothalamischen Aktivität nach dem Verzehr des kalorienfreien Süßstoffs Sucralose im Vergleich zu Saccharose sowie reinem Wasser aufzudecken. Die übergeordnete Fragestellung lautete demnach: Bewirkt Sucralose im Gegensatz zu Zucker eine Steigerung der hypothalamische Aktivität (gemessen am Blutfluss) mit der Folge verstärkten Hungerempfindens resp. ausbleibenden Sättigungsgefühls? Spielen für den Grad dieser Einflussnahme Körpergewicht/BMI und Geschlecht eine Rolle?

Die Studienkohorte umfasste 85 Erwachsene im Alter von 18 bis 35 Jahren, von denen 75 (♀: 43) die Studie beendeten. Die Teilnehmer wurden in drei BMI-Klassen aufgeteilt (37 % gesundes Gewicht, 32 % übergewichtig, 31 % adipös). Für jeden Patienten erfolgten Messungen (MRT, Blutanalyse) nach dem Konsum von 300 ml einer Saccharose-Lösung, 300 ml einer auf gleiche Süße kalibrierten Sucralose-Lösung sowie von 300 ml Wasser (Kontrolle) mit hinreichend langen Auswaschphasen (Cross-Over-Design). Zweierpaarungen in allen Kombinationen (Sacharose vs. Sucralose, Saccharose vs. Wasser, Sucralose vs. Wasser) dienten dem direkten Abgleich der einzelnen Getränkewirkungen. Die Messzeitpunkte für jedes Getränk lagen bei 0 (Basiswert vor dem Trinken) sowie 2, 10, 35 und 120 Minuten nach dem Trinken.

Zentralnervöse Befunde

Ausgehend von gleichen hypothalamischen Ausgangsblutflüssen zeigten die MRT-Scans nach dem Konsum der drei Testgetränke signifikant (p-Wert < 0,007) unterschiedliche Veränderungen des hypothalamischen Blutflusses: Der kalorienfreie Süßstoff Sucralose induzierte speziell im lateralen Hypothalamus eine verstärkte, Hunger indizierende Blutstromerhöhung im Vergleich zu Saccharose und Wasser, die in beiden Abgleichen mit p-Werten von < 0,018 bzw. < 0,019 signifikant war, sich im zeitlichen Verlauf aber nicht veränderte. Im medialen Hypothalamus sowie der sogenannte Neudorfer-Region (einem weiteren im Rahmen der Appetitregulation interessierenden Hypothalamusbereich) zeigten die Süßstoff-Scans nur gegenüber der Wasserkontrolle eine signifikant höhere Steigerung des Blutflusses, nicht aber gegenüber dem Zucker.

Ist die Hypothalamus-Reaktion BMI- und geschlechtsabhängig?

Bei der Stratifizierung nach BMI zeigte sich insgesamt eine positive Korrelation zwischen Leibesfülle und Stärke der lateralen hypothalamischen Antwort (Blutstromzunahme). Mit anderen Worten: Je höher der BMI liegt, umso stärker wird der Appetit durch ein Getränk angeregt. In der adipösen Subkohorte war der Süßstoffkonsum mit einer besonders starken Blutstromsteigerung (Hunger) im lateralen Hypothalamus verbunden, allerdings nur im Vergleich mit dem Trinken von Wasser. In der vergleichenden Wirkung von Sucralose und Saccharose zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Süßstoff und Zucker stimulierten die Hypothalamusaktivität (Appetitanregung) also ähnlich stark.

Anders lagen die Verhältnisse bei den Probanden mit gesundem BMI: Bei ihnen löste der Süßstoff im Vergleich zum Zucker, nicht aber im Abgleich mit Wasser, eine besonders starke Aktivität/Blutflusszunahme im lateralen Hypothalamus aus. Die Zuckeraufnahme hatte hier eine niedrigere lateral-hypothalamische Antwort (höheres Sättigungsgefühl) zu Folge als das Trinken von Wasser. In der Übergewichtigen-Gruppe zeigte der Vergleich der hypothalamischen Antworten auf Wasser, Saccharose und Sucralose keine signifikanten Unterschiede auf. Der laterale Hypothalamus der Übergewichtigen reagierte auf alle drei Getränke ähnlich (un)sensibel.

In den beiden anderen analysierten Hypothalamusregionen (mediale und Neudorfer Region) zeigten sich einzig bei den Probanden mit gesundem BMI unterschiedliche Antworten auf Sucralose und Saccharose. Bei den funktionalen Verbindungen zu anderen Hirnarealen detektierten die kalifornischen Neurologen Veränderungen, die nach Konsum von Süßstoff und Zucker teils sehr unterschiedlich ausfielen und zudem BMI-abhängig differierten. Welche Bedeutung diesen unterschiedlichen Verknüpfungsmustern für die Appetitregulation zukommt, bleibt vorerst ungeklärt.

Der herausstechende Befund beim Geschlechtervergleich war eine signifikant höhere Süßstoffempfindlichkeit von Frauen. Im Vergleich zu den Männern reagierte der weibliche laterale Hypothalamus auf Sucralose sowohl im Abgleich mit Saccharose als auch mit Wasser mit deutlich stärkerer Blutstromzunahme.

Blutzuckerveränderung mit Höhenwirkung

Nach dem Süßstoffkonsum erfolgende Messungen der Blutzucker- und Insulinspiegel sowie deren Assoziationen zum hypothalamischen Blutfluss sind besonders im Kontext Glukosetoleranz-Störungen infolge von Mikrobiomveränderungen von Interesse (hier und hier). In der aktuellen Studie führte einzig der Zuckerkonsum zu einem deutlichen Anstieg der Blutglukose- und Insulinspiegel, die beide 35 Minuten nach dem Verzehr den Maximalwert erreichten. Bei Normal- und Übergewichtigen, nicht aber bei den Adipösen, war dieser Anstieg mit reduziertem hypothalamischen Blutfluss (Sättigung) verbunden. Nach Süßstoffkonsum blieben all diese Wirkungen aus. Selbstauskünfte zur empfundenen Hungerintensität ergaben über die Gesamtkohorte hinweg das Bild einer stärkeren Appetitanregung durch den Süßstoff im Vergleich zum Zucker.

Beschränkter Erkenntnisgewinn

Die vorgestellte Studie weist einige gravierende Beschränkungen auf. Aus Untersuchungen eines einzelnen Süßstoffs an einer 75-Personen-Kohorte und noch deutlich kleineren Subkohorten lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen ableiten. Zudem ist die Korrelation zwischen hypothalamischer Blutstromstärke und Intensität des Hungergefühls nicht hinreichend explorativ manifestiert. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen bestätigt die vorgestellte Arbeit die vermeintlich appetitanregende Süßstoffwirkung. Dass diese im Studienkontext stärker ausfällt als bei Konsum von Zucker, trifft aber nur auf Menschen mit gesundem BMI zu. Welche Bedeutung ein hoher BMI für das Risiko einer weiteren Gewichtszunahme hat, zeigte sich in der bei Adipösen sowohl durch Süßstoff als auch durch Zucker ausgelösten, etwa gleichstarken Erhöhung des hypothalamischen Blutflusses: Süßstoff triggert ihren Hunger – mit der Folge sekundärer Energiezufuhr. Zucker erhöht zusätzlich die primäre Energieaufnahme.

Insgesamt bleibt weiterhin unklar, ob die süße Geschmacksempfindung der ausschlaggebende Reiz für die Appetitanregung ist und welche Rolle die an das Süßempfinden gekoppelte Höhe der Energieaufnahme spielt. Die Vergleiche der hypothalamischen Reaktionen auf Süßstoff und Zucker in den verschiedenen Subkohorten fielen zum Teil sehr unterschiedlich aus.

Fazit: Es bleibt spannend

Als wichtige Erkenntnis in diesem Kontext bleibt die augenscheinliche Abhängigkeit der Hypothalamusaktivierung von BMI und Geschlecht: Nach den Ergebnissen dieser Studie reagieren einzig gesundgewichtige Personen auf die vom Zucker gelieferten Kalorien mit einem gewissen Sättigungsempfinden, das beim Süßstoffkonsum ausbleibt. Demnach passt (nur) auf sie die Empfehlung, lieber in vernünftiger Dosierung mit Zucker zu süßen als hungrig machenden Süßstoff zu verwenden. Bereits Übergewichtigen, vor allem aber Adipösen, kann dieser Rat nicht gegeben werden. Gerade bei letzteren steigert alles Süße – ob mit oder ohne Kalorien – den Appetit in ähnlichem Ausmaß. Sola aqua bzw. anderes ohne Süßgeschmack und Energie, lautet hier die Devise.

Zur Wirkung verschiedener Süßstoffe auf die menschliche Physiologie gibt es angesichts der weltweit hohen Nachfrage viel zu erforschen. Dass Süßstoff – egal welcher chemischen Natur – etwas gänzlich anderes ist als Zucker ohne Kalorien, zeichnet sich immer deutlicher ab. Hinter dem Schadenspotenzial und dessen oft nicht hinreichend im Fokus stehender Dosisabhängigkeit stehen noch viele Fragezeichen.

Quellen:


Chakravartti et al.: Non-caloric sweetener effects on brain appetite regulation in individuals across varying body weights. Nat Metab, 2025. doi: 10.1038/s42255-025-01227-8 

Suez et al.: Personalized microbiome-driven effects of non-nutritive sweeteners on human glucose tolerance. Cell, 2022. doi: 10.1016/j.cell.2022.07.016 

Debras et al.: Artificial Sweeteners and Risk of Type 2 Diabetes in the Prospective NutriNet-Santé Cohort. Diabetes Care, 2023. doi: 10.2337/dc23-0206

Wu et al.: Sweetener aspartame aggravates atherosclerosis through insulin-triggered inflammation. Cell Metab, 2025. doi: 10.1016/j.cmet.2025.01.006 

Debras et al.: Artificial sweeteners and cancer risk: Results from the NutriNet-Santé population-based cohort study. PLoS Med, 2022. doi: 10.1371/journal.pmed.1003950

Palomar-Cros et al.: Consumption of aspartame and other artificial sweeteners and risk of cancer in the Spanish multicase-control study (MCC-Spain). Int J Cancer, 2023. doi: 10.1002/ijc.34577

Steinert et al.: Effects of carbohydrate sugars and artificial sweeteners on appetite and the secretion of gastrointestinal satiety peptides. Br J Nutr, 2011. doi: 10.1017/S000711451000512X 

Wilk et al.: The Effect of Artificial Sweeteners Use on Sweet Taste Perception and Weight Loss Efficacy: A Review. Nutrients, 2022. doi: 10.3390/nu14061261

Smeets et al.: Functional magnetic resonance imaging of human hypothalamic responses to sweet taste and calories. Am J Clin Nutr, 2005. doi: 10.1093/ajcn/82.5.1011

Van Opstal AM, Kaal I, van den Berg-Huysmans AA et5 al.: Dietary sugars and non-caloric sweeteners elicit different homeostatic and hedonic responses in the brain. Nutrition, 2019. doi: 10.1016/j.nut.2018.09.004

Van Opstal et al.: Brain activity and connectivity changes in response to nutritive natural sugars, non-nutritive natural sugar replacements and artificial sweeteners. Nutr Neurosci, 2021. doi: 10.1080/1028415X.2019.1639306 

Roger et al.: The Role of the Human Hypothalamus in Food Intake Networks: An MRI Perspective. Front Nutr, 2022. doi: 10.3389/fnut.2021.760914 

Osada et al.: Functional subdivisions of the hypothalamus using areal parcellation and their signal changes related to glucose metabolism. Neuroimage, 2017. doi: 10.1016/j.neuroimage.2017.08.056 

Wright et al.: Differential effects of hunger and satiety on insular cortex and hypothalamic functional connectivity. Eur J Neurosci, 2016. doi: 10.1111/ejn.13182 

Kullmann et al.: The effect of hunger state on hypothalamic functional connectivity in response to food cues. Hum Brain Mapp, 2023. doi: 10.1002/hbm.26059

Neudorfer et al.: A high-resolution in vivo magnetic resonance imaging atlas of the human hypothalamic region. Sci Data, 2020. doi: 10.1038/s41597-020-00644-6

Suez et al.: Personalized microbiome-driven effects of non-nutritive sweeteners on human glucose tolerance. Cell, 2022. doi: 10.1016/j.cell.2022.07.016

Suez et al.: Artificial sweeteners induce glucose intolerance by altering the gut microbiota. Nature, 2014. doi: 10.1038/nature13793 

Die große Multivitamin-Lüge

Der Glaube an Multivitamin-Pillen oder zumindest die „Kann-ja-nicht-schaden-Überzeugung“ sind ungebrochen. Der wissenschaftliche Tenor ist aber ein anderer – sterben NEM-Fans vielleicht sogar früher?

Gezielt ausgewählt und individuell dosiert anstatt nach dem Gießkannenprinzip! In medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Fachkreisen dominiert die Auffassung, dass Nahrungsergänzungsmittel (NEM) der Prävention und/oder dem Ausgleich von Mikronährstoffmängeln für entsprechende sensible Personenkreise dienen. Ursache solcher Sensibilität können besondere Lebenssituationen (z. B. Schwangerschaft), Verhaltensweisen (Hochleistungssport, Mangel an natürlicher Sonnenlichtexposition), aber auch Malabsorptionssyndrome, Nahrungsunverträglichkeiten oder andere mit erhöhten Nährstoffmangelrisiken verbundene Vorerkrankungen sein.

Unbeeindruckt von derlei Vorgaben, herrscht in weiten Bevölkerungskreisen die Ansicht vor, dass konzentrierte Vitamine, Mineralstoffe und so manch anderes Wohlklingendes als Dragee, Brausetablette oder Fluid konsumiert, jedem Organismus guttut. Nach einer repräsentativen Umfrage des Portals „Statista Consumer Insights“ konsumieren drei Viertel der in Deutschland lebenden Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren im Vertrauen auf gesundheitlichen Nutzen NEM, wobei Vitamine mit einigem Abstand vor Mineralstoffen ganz oben auf der Beliebtheitsskala stehen.

Eine ärztliche Beratung mit serologischer Bestimmung des Mikronährstoffstatus findet nur in seltenen Fällen statt. NEM-Einnahme nach Gutdünken („kann ja nicht schaden“) macht den Löwenanteil der Konsumenten aus. Und da man nicht weiß, ob einem etwas fehlt, und wenn ja, was und wieviel davon, erscheint es doch am besten, die ganze Palette einzuwerfen. Wozu gibt es schließlich Multivitaminpräparate (MVP)?

„Klotzen und nicht kleckern!“

Durch eine Pille mit allem versorgt, da kann nichts mehr schiefgehen, so die verbreitete und durch lautstarkes Herstellermarketing unterfütterte Auffassung. Hinlänglich belegte Überdosierungsrisiken sind unter Konsumenten offenbar nicht bekannt oder gelten als nicht beachtenswert. Stellvertretend seien hier genannt:

Verlängern MVP das Leben?

Vor dem Hintergrund der großen Beliebtheit – auch in den USA nimmt jeder Dritte im Glauben an universell krankheitspräventive Wirkungen regelmäßig MVP ein – ist eine Arbeitsgruppe um Dr. Erikka Loftfiled vom National Cancer Institute in Rockville/Maryland auf die Suche nach epidemiologischen Assoziationen zwischen MPV-Einnahme und Bevölkerungssterblichkeit gegangen. In ihrer 2024 im JAMA Network publizierten Studie analysierte sie das Datenmaterial von drei prospektiven US-amerikanischen Kohortenstudien („National Institutes of Health–AARP Diet and Health“ (Studie zu Ernährung und Krankheitsrisiken), „PLCO Cancer Screening Trial“ (Krebsfrüherkennungsstudie); „Agricultural Health Study“ (Studie zu Pestizidwirkungen bei Landwirten).

Die Daten von über 390.000 Erwachsenen, die anamnetisch weder mit Krebs noch einer anderen chronischen Erkrankung vorbelastet waren, flossen schließlich in die Analyse ein. Die Nachbeobachtungsdauer betrug bis zu 27 Jahre. Primäres Ziel der Arbeit war die Prüfung der Hypothese, dass die tägliche MVP-Einnahme mit einer geringeren Gesamtsterblichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Haupttodesursachen – Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen – verbunden ist. Der hohen Bias-Anfälligkeit wurde durch multivariables Herausrechnen potenzieller Verzerrungsfaktoren (Ethnie, Geschlecht, Alter, Rauchen, Alkohol, Ernährung, BMI, körperliche Aktivität, Bildungsniveau und weitere) Rechnung getragen. Die Informationen zum MVP-Konsum (verschiedene Kategorien von „nie“ bis „täglich“) wurden in allen drei Kohorten jeweils zu Studienbeginn sowie zu mehreren Zeitpunkten während der Nachbeobachtung per Fragebogen gewonnen.

„MVP-senken-Mortalität-Hypothese“ nicht bestätigt

Über die fast drei Dekaden währende Gesamtbeobachtungsdauer verstarben von den 390.124 zu Beginn gesunden, ein Durschnittalter vom 61,5 (38–66) Jahren aufweisenden Personen (♂:♀ = 55:45) knapp 42 %. Unter den Verstorbenen machten Krebs mit circa. 30 % gefolgt von Herzkrankheiten mit 21 % und zerebrovaskuläre Schäden mit 5,6 % die höchsten krankheitsbedingten Todesursachen aus. Weder hinsichtlich der Gesamtmortalität noch bezüglich der häufigsten Todesursachen war für die regelmäßige MVP-Einnahme ein reduzierender Effekt nachweisbar. Im Gegenteil: Die multifaktoriell um genannte Einflussfaktoren bereinigte Sterberate bei den täglichen MVP-Konsumenten lag signifikant um 4 % höher als bei den Nicht-Konsumenten (multivariabel adjustierte HR 1,04; 95 % KI; 1,02–1,07). Subanalysen mit Stratifizierung nach Geschlecht, Alterskategorie, Ethnie, Raucherstatus, Alkoholkonsum, BMI u. w. hatten auf dieses Ergebnis keinen signifikanten Einfluss.

Gefährliche Ingredienzien?

Dass eine statistische Analyse, auch wenn die sie die Daten von drei großen randomisierten Kohorten poolt, keine Kausalitäten aufdecken kann, versteht sich von selbst. Ob also tatsächlich die konzentrierte MV-Aufnahme (mit)ursächlich für das etwas erhöhte Sterberisiko ist, bleibt fraglich, zumal die Art des konsumierten MVP und damit auch die Dosierung der einzelnen Vitamine keine Berücksichtigungen fanden. Ein erwähnenswerter Aspekt in diesem Kontext ist der im Juni 2024 von einer Arbeitsgruppe der „Heads of Food Safety Agency“ (HoA) – das ist die Leitungsebene der höchsten europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit – herausgegebener „First Report Food Supplements“.

Auf Basis gesammelter Forschungsdaten listet die Gruppe, in der Vertreter aus 26 europäischen Ländern tätig sind, in diesem Bericht 117 potentiell gesundheitsgefährdende Inhaltsstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln auf. Diese Substanzen sollten nicht oder nur eingeschränkt in NEM eingesetzt werden. 65 dieser Substanzen werden als „neuartig“ und daher in ihren Schädigungspotenzial noch nicht hinreichend untersucht eingestuft. 13 werden bei Aufnahme über NEM wegen der deutlich die normale Aufnahmemenge übersteigenden Dosis als risikobehaftet bewertet. Hierzu zählen beispielsweise CumarinCurcuminLepidium meyenii (Maca) und Withania somnifera (Ashwagandha).

Die HoA hat diese Liste für den europäischen Markt einstimmig verabschiedet. Die Umsetzung mit dem Ziel entsprechender gesetzlicher Regelungen ist gerade erst angelaufen. Inwieweit „unschöne“ Zutaten aus dem Bereich von Konservierungs- und Bindemitteln, Farb-, Aroma- und anderen „E-benummerten“ Stoffen dazu beitragen, dass MVP offenbar keinen positiven, wenn nicht gar einen nachteiligen Effekt auf die Gesundheit entfalten, ist bislang spekulativ. Man sollte es aber im Auge behalten und – sofern man NEM-Verwender ist – ruhig mal einen Blick auf die meist ärgerlich klein gedruckte Zutatenliste riskieren.

Nahrungsergänzung ist weder Lebensmittelersatz noch Medizin

NEM sind nicht dafür konzipiert, eine von Unlust auf mikronährstoffdichte Lebensmittel charakterisierte Fast-Food-Ernährungskultur oder das Praktizieren trendiger einseitiger Ernährungsphilosophien zu ermöglichen. Vielmehr geht es um den Ausgleich bzw. die Prävention von Defiziten, die bestimmten Lebenssituationen und/oder krankhaften Versorgungsstörungen geschuldet sind. Da NEM rechtlich keine Medikamente/Medizinprodukte, sondern als Lebensmittel deklariert sind, ist für ihre Markteinführung kein studienbasierter Wirkungsnachweis erforderlich. Ein NEM muss vom Hersteller lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) gemeldet werden.

Damit werden zulässigen Werbeaussagen gewisse Schranken wie das Verbot mit krankheitsvorbeugenden oder heilenden Inhalten zu ködern, auferlegt. Auch darf nicht der Eindruck einer Notwendigkeit des NEM-Konsums zur Nährstoffdeckung vermittelt werden. Trotz aller Auflagen ist die Marketingbranche kreativ genug, Slogans zu formulieren, die den Eindruck einer gesundheitsfördernden, wenn nicht gar kurativen Wirkung zu vermitteln. Problematisch bei alledem ist, dass für die NEM-Sicherheit allein die Hersteller zuständig sind. Das verpflichtet sie zwar über potentiell riskante Inhaltsstoffe wie Allergene zu informieren. Zu Kontraindikationen der Einnahme oder den zahlreichen bekannten Wechselwirkungen mit Medikamenten, müssen jedoch keine Hinweise geliefert werden. Auch fehlt eine EU-weit gültige Höchstmengenregelung und sonstige, möglicherweise problematische Zusatzstoffe müssen ohne jeden Warnhinweise lediglich auf der Verpackung aufgeführt werden.

Erkenntnisgewinn?

Dass die Ernährungswissenschaft aufgrund der fehlenden Praktikabilität randomisierten Interventionsstudien über lange Zeiträume kaum Kausalitäten aufdecken kann, ist eine gleichermaßen unbefriedigende wie schwerlich zu lösende Situation. Auch die mit dem Befragungsdesign verbundenen Unsicherheiten, die den allermeisten Ernährungsstudien anhaftenden, wurden im DocCheck-Forum oft genug diskutiert. Mit diesem Bias muss man in der Ernährungswissenschaft leben. Immerhin lässt sich vermuten, dass die MVP-Einnahme weit weniger schambehaftet ist als vermeintliche kulinarische Sünden aus der „Süß-und-fettig-Ecke“. Somit besteht zumindest die Hoffnung, dass die Selbstauskünfte der Probanden in den analysierten Studienkohorten keine allzu weite „Subjektiv-objektiv-Schere“ aufweisen.

Eingedenk der prinzipiell begrenzten Verlässlichkeit statistischer Datenanalysen liefert die Arbeit keine Gründe, von der Strategie abzuweichen, Supplemente nur dann gezielt und individuell dosiert zur Behandlung (serologisch) gemessene Nährstoffdefizite einzusetzen, wenn eine hinreichend Versorgung über die alltägliche Kost nicht möglich ist. Getreu dem „Viel-hilft-viel-Mythos“ mit der MVP-Gießkanne einen möglicherweise schon übervollen Tank zu malträtieren, ist eine Praxis, für die sich keine belastbaren Argumente finden lassen. Nicht zu vergessen bei alledem: Zu den als „gesundheitsstärkend“ beworbenen Inhaltsstoffen (über 70 sind des bei einem des aktuell am offensivsten vermarktete Produkts) gesellen sich oft eine Vielzahl nur halblaut im Kleingedruckten aufgeführten „Kollateralsubstanzen“, deren Unbedenklichkeit bei Dauereinnahme nicht gesichert ist.

Quellen:

Loftfield et al. Multivitamin Use and Mortality Risk in 3 Prospective US Cohorts. JAMA Netw Open, 2024. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.18729

Matthews C, Liao L, Sinha R, Ward M. NIH-AARP Diet and Health Study. Division of Cancer Epidemiology & Genetics at the National Cancer Institute

Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian (PLCO) Cancer Screening Trial. Nat. Inst. of Health – Nat. Cancer Inst. 

Nat. Inst. of Health. Nat. Cancer Inst. and Nat. Inst. of Environmental Health Sciences. 

Heads of Food Safety Agency (HoA). First report of the HoA Working Group „Food Supplements“

Studie aus den USA Zähne überleben nach der Endo rund elf Jahre

Die definitive Versorgung hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Überlebensdauer von endodontisch behandelten Zähnen. So verlängert das Einsetzen einer Krone direkt nach einer Wurzelkanalbehandlung die Überlebensdauer des Zahns im Schnitt um rund 5,3 Jahre.

Forschende aus den USA haben die Langlebigkeit von Wurzelkanalbehandlungen von PatientInnen ausgewertet, die in zahnärztlichen Praxen verschiedener Bundesstaaten behandelt wurden. Die durchschnittliche Lebensdauer einer Wurzelkanalbehandlung betrug demnach rund elf Jahre.

Hierzu sammelte das Team anonymisierte elektronische Patienendaten des National Dental Practice-Based Research Network und wertete Aufzeichnungen von 99 kleinen Gruppen- und Einzelpraxen aus, in denen die meisten Amerikaner zahnärztlich versorgt werden. In die Studie wurden schließlich Informationen von mehr als 46.000 PatientInnen und insgesamt 71.283 endodontisch behandelten Zähnen inkludiert.

Definitive Füllung und Krone verlängerten das Leben auf 20 Jahre

Die Datenanalyse ergab, dass die durchschnittliche Überlebenszeit eines Zahns nach einer Wurzelbehandlung 11,1 Jahre betrug. Beeinflusst wird sie durch verschiedene Faktoren, unter anderem durch die definitive Restauration. So konnten die Forschenden zeigen, dass die Überlebensdauer von Zähnen, die direkt nach der Wurzelbehandlung eine definitive Füllung und Krone erhielten, eine Überlebensdauer von etwa 20 Jahren haben. Immerhin 26 Prozent aller Zähne überlebten mindestens 20 Jahre. Eine Krone verlängerte die Überlebensdauer eines Zahns um rund 5,3 Jahre. Im Unterschied dazu belief sich die Überlebensdauer von Zähnen ohne restaurative Maßnahmen nur auf etwa 6,5 Jahre.

Einfluss haben auch Wohnort und Versicherungsstatus

Die WissenschaftlerInnen konnten auch geografische Unterschiede feststellen. Im Nordosten der USA überlebten endodontisch behandelte Zähne durchschnittlich länger (20,5 Jahre) als im Westen des Landes (8,7 Jahre). Der Versicherungsstatus spielte ebenfalls eine Rolle für die Überlebensdauer der Zähne. Die AutorInnen betonen, dass die Ergebnisse den Wert von Kronen und dauerhaften Restaurationen nach Wurzelkanalbehandlungen bestätigen.

Thyvalikakath T, LaPradd M, Siddiqui Z, Duncan WD, Eckert G, Medam JK, Rindal DB, Jurkovich M, Gilbert GH; National Dental PBRN Collaborative Group. Root Canal Treatment Survival Analysis in National Dental PBRN Practices. J Dent Res. 2022 May 12:220345221093936. doi: 10.1177/00220345221093936. Epub ahead of print. PMID: 35549468.

Fehldiagnose bei morgendlichem Kopfschmerz

Eine 67-jährige Frau beklagt sich über anhaltende Kopfschmerzen am Morgen und ein Schweregefühl im Unterkiefer. Eine erste Diagnose weist auf temporomandibuläre Dysfunktionen hin – doch trotz eingeleiteter Behandlung bessern sich die Symptome nicht.

Eine Stabilisierungsschiene sowie Muskelmassagen zur Behandlung von Funktionsstörungen im Bereich des Kiefergelenks und der Kaumuskulatur bringen nur geringe Besserung. Auffällig ist, dass die Beschwerden vor allem morgens direkt nach dem Aufwachen auftreten, wie die Autoren schreiben.

Wahre Ursache fällt in anderes Fachgebiet

Erst eine vertiefte Anamnese, bei der auch das Schnarchverhalten und die subjektive Tagesmüdigkeit mittels Epworth Sleepiness Scale abgefragt werden, lenkt den Verdacht auf eine schlafbezogene Atemstörung. Ein ambulanter Schlafapnoe-Test (OCST) bestätigt diesen Verdacht: Der sogenannte Respiratory Event Index (REI) liegt bei 10,1 Ereignissen pro Stunde – ein klarer Hinweis auf eine milde Form von OSA. Die Sauerstoffsättigung sinkt während des Schlafs auf kritische 76 Prozent.

Wirksame Therapie mit Unterkiefer-Protrusionsschiene

Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte verordnen eine individuell angepasste Unterkieferschiene (Mandibular Advancement Device, MAD), die während des Schlafs den Unterkiefer leicht nach vorn verlagert und so die oberen Atemwege offen hält. Bereits nach kurzer Zeit verbessert sich die Schlafqualität der Patientin deutlich, die morgendlichen Kopfschmerzen verschwinden.

Eine Nachuntersuchung bestätigt den Erfolg: Der REI sinkt auf 1,6/h, die Sauerstoffsättigung im Schlaf steigt auf 86 Prozent.

Anfängliche Fehlinterpretation durch Überlappung der Symptome

Der Fall verdeutliche die diagnostische Herausforderung bei sich überlappenden Krankheitsbildern. Temporomandibuläre Dysfunktionen und obstruktive Schlafapnoe können ähnliche Symptome wie Gesichtsschmerz und Kopfschmerzen verursachen. Ohne genaue Abklärung bestehe allerdings die Gefahr einer Fehldiagnose – mit langwieriger und ineffektiver Behandlung.

Die Autoren betonen daher, dass bei morgendlichen Kopfschmerzen immer auch schlafbezogene Ursachen in Betracht gezogen werden sollten – insbesondere bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren wie Tagesmüdigkeit oder Schnarchen.

Fazit: Interdisziplinäre Diagnostik ist entscheidend

Es ist wichtig, bei unklaren Kopf- und Gesichtsschmerzen interdisziplinär zu diagnostizieren, so die Autoren zum Abschluss. Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten bei Verdacht auf TMDs auch stets an schlafbezogene Ursachen denken und bei entsprechenden Hinweisen eine gezielte Schlafdiagnostik einleiten. Denn die richtige Diagnose sei in Fällen wie diesem der Schlüssel zu einer wirksamen und nachhaltigen Therapie.

 

Originalpublikation: Ishiyama H et al., Morning headache caused by obstructive sleep apnea misdiagnosed as temporomandibular disorders-related headache: A case report. Journal of Prosthodontic Research 2024; 69(2): 303–307

Chlorotonil lässt Bakterien chemisch „ausbluten“

Die Entwicklung und Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen stellt eine der größten Bedrohungen für die globale Gesundheit dar. Um diese Resistenzen zu überwinden, werden Medikamente mit neuartigen Wirkmechanismen dringend benötigt – Chlorotonile könnten hier zukünftig einen innovativen Weg beschreiten.


Chlorotonile entfalten ihre Wirkung auf zwei Ebenen: Zum einen destabilisieren sie die Zellmembran von Bakterien, zum anderen blockieren sie gezielt Enzyme, die für die Synthese von Zellwand und Proteinen unerlässlich sind. [Symbolbild]

Die rasante Verbreitung von Antibiotikaresistenzen zählt zu den größten Bedrohungen für die globale Gesundheit. Weltweit suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daher nach Wirkstoffen, die Bakterien auf bislang ungenutzte Weise angreifen – und so die bestehenden Resistenzmechanismen aushebeln. Forschende des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) haben nun einen entscheidenden Fortschritt erzielt: Sie konnten den Wirkmechanismus einer neuartigen Naturstoffklasse, der sogenannten Chlorotonile, entschlüsseln.

Doppelschlag gegen Bakterien

Chlorotonile entfalten ihre Wirkung demnach auf zwei Ebenen: Zum einen destabilisieren sie die Zellmembran von Bakterien, zum anderen blockieren sie gezielt Enzyme, die für die Synthese von Zellwand und Proteinen unerlässlich sind. Dieser kombinierte Angriff setzt die Bakterien so stark unter Druck, dass sie absterben – auch solche, die gegen viele gängige Antibiotika bereits resistent seien, so die Autoren, die ihre Ergebnisse unlängst in der Fachzeitschrift Cell Chemical Biology veröffentlichten.

Wirksam gegen Krankenhauskeime

Entdeckt wurde die Substanzklasse bereits 2008 im Bodenbakterium Sorangium cellulosum. Frühere Studien zeigten, dass Chlorotonile gegen gefährliche Erreger wie Staphylococcus aureus und Enterococcus faecium wirksam seien – beides Keime, die in Krankenhäusern besonders gefürchtet würden. Sogar der Malaria-Erreger Plasmodium falciparum lasse sich mit Chlorotonilen bekämpfen, schreiben die Autoren weiter. Doch der genaue Wirkmechanismus blieb lange ein Rätsel.

Angriff auf die Zellmembran

Unter der Leitung von Dr. Jennifer Herrmann und Prof. Rolf Müller konnten die HIPS-Forschenden nun zeigen, wie Chlorotonile im Detail wirken. Besonders ungewöhnlich: Die Moleküle binden direkt an Lipide in der Zellmembran. Dadurch kommt es zum unkontrollierten Austritt von Kaliumionen, was das elektrische Potenzial der Membran verändere. Die Folge: Der osmotische Druck in der Zelle bricht ein, lebenswichtige Prozesse geraten aus dem Gleichgewicht – und die Zelle stirbt schließlich ab.

Enzymhemmung verstärkt die Wirkung

Zusätzlich hemmen Chlorotonile zwei zentrale Enzyme: die Phosphatase YbjG und die Methionin-Aminopeptidase MetAP. Beide seien an der Herstellung von Zellwandbestandteilen und Proteinen beteiligt. Die gleichzeitige Störung mehrerer lebenswichtiger Funktionen mache es den Bakterien besonders schwer, effektive Abwehrmechanismen zu entwickeln.

Schwachstelle der Bakterien gezielt ausgenutzt

Ein Grund für die resistenzbrechende Wirkung liege im Angriffsziel selbst: Lipide lassen sich von Bakterien nicht so einfach verändern wie Proteine, heißt es weiter. Während bei enzymbasierten Angriffen häufig Mutationen ausreichten, um Resistenz zu erzeugen, sei das bei Membranlipiden deutlich schwieriger. Nur durch gezielte Mutationen im Lipidefflux-System – das die Zusammensetzung der Membran reguliere – konnten Forschende resistentere Bakterienstämme erzeugen.

Basis für neue Medikamente

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Chlorotonile ein völlig neues Wirkprinzip verfolgen und gleichzeitig mehrere kritische Strukturen in der Bakterienzelle angreifen“, erklärt Projektleiterin Dr. Herrmann. Diese Erkenntnisse eröffnen neue Perspektiven in der Antibiotikaforschung – und die Möglichkeit, gezielt nach weiteren Substanzen mit vergleichbarem Wirkprofil zu suchen.

Aktuell arbeite das HIPS-Team an der Weiterentwicklung der Chlorotonile, um deren Wirksamkeit und Sicherheit zu verbessern. Parallel dazu laufen im Rahmen des Förderprogramms GO-Bio initial erste Schritte zur Entwicklung eines Medikaments gegen Malaria. Die Forschung an den Chlorotonilen könnte damit nicht nur im Kampf gegen multiresistente Bakterien, sondern auch bei der Bekämpfung parasitärer Erkrankungen letztlich einen Durchbruch bringen, wie es abschließend heißt.

 

Originalpublikation: Deschner F et al., Natural products chlorotonils exert a complex antibacterial mechanism and address multiple targets. Cell Chemical Biology 2025. DOI: 10.1016/j.chembiol.2025.03.005

3D-gedruckt und bioaktiv: Zahnersatz setzt Chlorhexidin frei

Marius Behnecke, Promovend an der Hochschule Osnabrück, forscht im Rahmen seiner kooperativen Promotion gemeinsam mit der Universität Osnabrück an einem innovativen Ansatz: der Entwicklung bioaktiver Zahnersatzmaterialien aus dem 3D-Drucker: jetzt gibt es einen ersten Durchbruch.

Im Zentrum der Forschung steht ein Zahnersatz, der nicht nur die mechanischen Anforderungen erfüllt, sondern auch mit dem antiseptisch wirkenden Medikament Chlorhexidin angereichert ist. „Ziel ist es, ein Material zu entwickeln, das Entzündungen aktiv vorbeugt und gleichzeitig den hohen zahnmedizinischen Ansprüchen gerecht wird – stets mit dem Fokus auf die Gesundheit der Patientinnen und Patienten“, erklärt Behnecke seinen Ansatz.

Vorteile für Patienten und Gesundheitssystem

Der Einsatz bioaktiver Werkstoffe im Zahnersatz bietet gleich mehrere Vorteile. Der enthaltene Wirkstoff wird lokal und in exakt dosierter Menge freigesetzt, was systemische Nebenwirkungen minimieren kann. Darüber hinaus ermöglicht der 3D-Druck eine passgenaue Fertigung, die auf die individuellen anatomischen Gegebenheiten der Patientinnen und Patienten abgestimmt ist.

Auch aus Sicht der Nachsorge bietet das neue Material Potenzial: Die antiseptischen Eigenschaften können das Risiko für Infektionen verringern, die Pflege erleichtern und somit die Gefahr schlecht erreichbarer „toter Winkel“ im Mundraum reduzieren. „Langfristig könnte dies nicht nur die Patientensicherheit erhöhen, sondern auch Kosten sparen – sowohl für die Versicherten als auch für das Gesundheitssystem“, so der Nachwuchsforscher weiter.

Technologische Herausforderungen bei der Herstellung

Die Entwicklung des Materials ist technisch jedoch recht anspruchsvoll. Die Basis bildet eine Mischung aus flüssigen Kunststoffen (Monomeren), feinen Glaspartikeln und dem Wirkstoff Chlorhexidin. Diese Komponenten müssen homogen kombiniert werden, damit sie sich im 3D-Druckverfahren verarbeiten lassen. „Die gleichmäßige Verteilung des Wirkstoffs sowie die Stabilität der Mischung während des Druckprozesses sind zentrale Herausforderungen“, erklärt Behnecke.

Der Druck selbst erfolgt schichtweise, wobei jede Lage mittels UV-Licht ausgehärtet wird. Dabei müssen Belichtungszeit und -intensität so justiert sein, dass der Wirkstoff nicht beschädigt wird und gleichzeitig die Festigkeit des Endprodukts gewährleistet ist. Ein weiterer Aspekt: Die Menge und Dauer der Wirkstofffreisetzung müssen exakt bestimmt werden, um eine therapeutisch wirksame Dosis zu garantieren.

Wichtig ist Behnecke auch die Praxistauglichkeit: Die neuen Materialien sollen mit gängigen 3D-Druckern verarbeitet werden können, wie sie heute bereits in Zahnarztpraxen und Dentallaboren im Einsatz sind – ohne Investitionen in teure Spezialgeräte.

Perspektiven über die Zahnmedizin hinaus

Das Potenzial bioaktiver Materialien gehe zudem über den Einsatz in der Zahnmedizin hinaus. Auch in anderen Bereichen wie der Implantologie oder Orthopädie könnten solche Werkstoffe zukünftig eine wichtige Rolle spielen. „Die Arbeit von Marius Behnecke ist ein Beispiel dafür, wie interdisziplinäre Forschung und neue Technologien die Medizintechnik voranbringen können – zum direkten Nutzen für Patientinnen und Patienten und das gesamte Gesundheitssystem“, sagt Prof. Dr. Svea Petersen, Betreuerin der Promotion und Professorin für Chemie und Oberflächenmodifikation polymerer Biomaterialien an der Hochschule Osnabrück.

Mit seiner Forschung an der Schnittstelle von Materialwissenschaft, 3D-Druck und Medizin leiste Behnecke einen Beitrag zur patientenorientierten Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung – passgenau, wirksam und zukunftsweisend.

 

Weitere Informationen zum Projekt: Hochschule Osnabrück